Auf, auf! Ich will euch mitnehmen auf eine interstellare Reise, auf einen kosmischen Trip, auf eine galaktische Fahrt. Ich will euch mitnehmen auf eine Sternenfahrt zu den entlegensten Galaxien des Alls, und darüber hinaus in weitaus unbekanntere, unvertrautere und fremdartigere Gebiete: Heute geht es – Gott bewahre – ins Theater. Genauer gesagt ins wunderschöne Landestheater meines Heimatstädtchens Coburg. Und noch genauer gesagt in dessen Interimsspielstätte, das Globe, ein nettes kleines Bauprojekt von einigen Milliönchen, das das historische Landestheater während der Zeit seiner Renovierung ersetzen soll. In dieser theatergewordenen Thunfischdose am ehemaligen Güterbahnhof einer etwas verschlafenen Kleinstadt sollte ich Zeuge einer Aufführung werden, die mich derart berührt, verwundert und zum Nachdenken gebracht hat, dass ich wohl nicht umhinkommen werde, diesen Artikel darüber zu schreiben.
Seit Anfang dieses Jahres zeigt das Landestheater Coburg ein Stück, das den meisten wohl in quälender Erinnerung an den Deutschunterricht bekannt sein dürfte: Dürrenmatts Die Physiker. Uraufgeführt 1962 erzählt die Komödie in zwei Akten die Geschichte des genialen Physikers Johann Wilhelm Möbius, der sich nach der Entdeckung einer Weltformel, die in den falschen Händen zu katastrophalen Folgen für die gesamte Menschheit führen könnte, in eine Psychiatrie einweisen lässt. Dort behauptet er, König Salomo sei ihm erschienen, um von der Allgemeinheit für verrückt erklärt zu werden und seine Entdeckungen somit zu entkräften. In selbiger Anstalt befinden sich jedoch auch zwei Agenten konkurrierender Geheimdienste, die sich ebenfalls für verrückt ausgeben, es in Wahrheit jedoch auf Möbius‘ Weltformel abgesehen haben. So viel vielleicht zum Inhalt, denn erstens ist der Ausgangsstoff nicht unbedingt das, was für mich in diesem Artikel von vorrangigem Interesse ist, und zweitens nimmt sich Regisseur Marten Straßenberg in seiner Inszenierung zahlreiche Freiheiten. Und hier kommen wir zu dem, was mich an Straßenbergs Physikern besonders begeistert: Die Inszenierung bringt jede Menge frischen Wind ins Schauspielhaus.
Insbesondere das Bühnenbild sticht hierbei heraus: In herrlich nostalgischem 60er-Jahre-Grün nimmt eine Couch in einem Halbkreis die Bühne ein, drei in Reihe aufgestellte Türrahmen, zwei Röhrenfernseher, auf denen unablässig schwarz-weiße Aufnahmen von Tieren und Naturschauspielen laufen, und ein Treppenaufgang als imaginärer Raumtrenner schließen den Kreis einer in sich eingeschlossenen Heilanstalt. Über allem schwebt, einem unheilvollen Nimbus gleich, ein schwarzes Gestell mit weißen LED-Streifen, das mal wie die Gefängnisgitter der Anstalt, mal wie ein ferner, unbekannter Sternenhimmel anmutet und mit all seinen rechten Winkeln einen starken Kontrast zu den runden Formen der restlichen Installationen erzeugt. Mich persönlich erinnert der retrofuturistische 60er-Jahre-Look an die Schauplätze in Barbarella, und tatsächlich (und ich kann es nicht glauben diese beiden Sci-Fi-Meisterwerke des Jahres 1969 endlich in einem Satz genannt zu haben) orientiert sich die Inszenierung inhaltlich wie visuell teils stark an Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum.
Ein Kernelement des Stücks, das sich von Dürrenmatts Vorlage entfernt und uns wiederum näher zu Kubrick bringt, ist die künstliche Intelligenz SAL (ein durchaus cleveres Wortspiel mit den Worten Salomo und cell in Anspielung auf den allwissenden Computer HAL aus 2001: Odyssee im Weltraum), die als allgegenwärtige Assistenz der Heilanstalt eingesetzt wird. Den intermedialen Einsatz von KI in einem Theaterstück im Jahre 2024 mag man als einfallslos und plump empfinden, und auch ich hatte diesbezüglich einige Vorbehalte, doch der Diskurs über künstliche Intelligenzen nimmt erstens deutlich weniger Platz ein, als ich im Voraus erwartet hatte, und fügt sich zweitens sinnhaft und ungezwungen in den thematischen Kern von Dürrenmatts Physikern ein (das Thema eines drohenden Atomkriegs war seinerzeit zudem wohl nicht weniger zeitgeschichtlich bedingt). Was im Ursprungswerk der durch die Veröffentlichung der Weltformel drohende Atomkrieg ist, ist hier die Übernahme der Menschheit durch KI.
Nun mag man ob all dieser schlauen Worte den Eindruck gewinnen, es gäbe in Marten Straßenbergs Inszenierung der Physiker recht viel zu denken und recht wenig zu lachen. Doch dem ist nicht so: Die Inszenierung ist geradezu unverschämt unterhaltsam. Dass ich hierbei meist über andere Gags und Anspielungen lache als der*die gut 30 Jahre ältere Durchschnittszuschauer*in mag wohl der Pop- und Internetkultur geschuldet sein, die hier und da Einzug in Dürrenmatts Komödie findet. Eine ganz entscheidende Änderung an Dürrenmatts Ausgangsmaterial sind auch die Musicalnummern, die in der Coburger Inszenierung laut Straßenberg eingestreut werden, um „den Rhythmus etwas zu brechen, bestimmten Figuren Raum zu geben, […] und gleichzeitig Zeit für Bilder zu schaffen oder […] die Komödie zu verstärken.“1 Besonders prominent ist hierbei ein Musical-Act eines Missionars (Nils Liebscher) und seiner Frau (Eva Gerngroß), der visuell wohl an Greta Gerwigs Barbie angelehnt sein könnte, in dem das christliche Glaubensbekenntnis als überspitztes Musicalduett geträllert wird. Auch die Liebesgeschichte des genialen Möbius (Hans Ehlers) und seiner Pflegerin Schwester Monika (Nils Svenja Thomas) erzählt sich durch einen wunderbar kitschigen Song am Piano. Mir persönlich wird das Dargebotene hier in einigen Momenten etwas zu oberflächlich und trivial (was jedoch auch an meiner furchtbar generellen Ablehnung gegenüber Musicals liegen könnte), ihm gelingt es dadurch jedoch auch, zu keiner Sekunde langweilig zu werden.
Lasst uns also zum Fazit kommen: Wenn SAL in physischer Form als glänzender Roboter auf der Bühne steht und ihr Discokugel-Helm hunderte sternengleiche Lichtpunkte ins Publikum wirft, wird mir bewusst, dass ich öfter ins Theater gehen sollte. Seien es nun Die Physiker in Coburg (die dort noch bis zum 22.06. aufgeführt werden, ich kann einen Besuch nur wärmstens empfehlen!) oder ein anderes Stück in einer anderen Stadt. Die Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der Aufführungssituation gibt mir Eindrücke einer Sternenreise, wie sie keine Barbarella und kein Kubrick dieser Welt geben können.
Quellen:
1 Corona Hahne, Cosma: „Futuristischer Fragenhagel. Vier Fragen an Marten Straßenberg“, in: Die Physiker. Programmheft des Landestheaters Coburg 2024, S. 21.
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