Ich war am 18.09. auf dem Konzert von girl in red in München. Das war so emotional für mich, dass ich einen Artikel darüber schreiben wollte. Weil girl in red an diesem Abend sehr viel in mir getriggert hat und weil ich glaube, dass man Geschichten wie diese erzählen sollte.
Girl in red heißt mit bürgerlichem Namen Marie Ulven Ringheim. Sie ist Norwegerin und südlich von Oslo aufgewachsen. Sie ist gerade einmal 25 Jahre alt und mehr Gen-Z Energie als bei ihr ist fast unmöglich. Aber dazu später mehr. Ihre Musik lässt sich dem Indie Pop und Bedroom Pop zuordnen. Bedroom Pop ist ein relativ neues Genre, das sich durch seine DIY-Ästhetik und intime, oft in Heimstudios aufgenommene Produktionen auszeichnet. Vor allem frühe Lieder, sowie ihr Durchbruch-Song i wanna be your girlfriend können diesem Genre zugeordnet werden. Ihre beiden Alben if i could make it go quiet (2021) und I’M DOING IT AGAIN BABY (2024) sind schon mehr polished und haben weniger kleine-Zimmer-Atmosphäre. Liegt vielleicht auch daran, dass girl in red nach ihren beiden EPs chapter 1 (2018) und chapter 2 (2019) Producer wechselt und das erste Album von FINNEAS (das ist der Bruder von Billie Eilish) und das zweite von Matias Tellez produziert wurde, die dem ganzen einen anderen Anstrich verpassen, der sich aber auch hören lässt. Mehr Pop eben und weniger Indie- und Bedroom-Pop.
Ich höre sie so gerne, weil erstens die Musik einfach richtig gut produziert ist. Sie verbindet Lo-Fi-Indie mit eingängigem Pop, was eine emotionale und abwechslungsreiche Klanglandschaft schafft. Ihre Produktion hat sich von minimalistischen, DIY-Sounds hin zu einer ausgereifteren, poppigen Ästhetik entwickelt, die dennoch ihre persönliche und intime Handschrift bewahrt. Und weil zweitens etwas Unausgesprochenes in mir auf einmal in ihren Texten ausgesprochen wird. All die Verwirrung, die Depressionen, das Durchhalten, das sich verlieben und keine Liebe bekommen. Liebe haben und geben, bis es schmerzt. Girl in red schafft in ihren Liedern einen schönen Blumenstrauß aus adoleszenten Gefühlen und Verwirrungen. Sehr gut also, dass sie da ist, und einen ein bisschen an die Hand nimmt, oder zumindest nicht alleine lässt mit all diesen Gefühlen.
Wenn ich an den Herbst denke, denke ich an girl in red und andersherum. Die beiden sind so verbunden wie Olaf Scholz und emotionslose Reden oder die Adventszeit und Drei Nüsse für Aschenbrödel. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Diese Verbindung zwischen Herbst und girl in red liegt natürlich auch an ihrem meist gestreamtesten und erfolgreichsten Song we fell in love in october. Aber nicht nur für den Herbst steht girl in red. Sie ist auch so etwas wie eine Queer Icon geworden. Eben durch Songs wie we fell in love in october. Dort singt sie: “You will be my girl, my girl, my girl, my girl.” Auch in vielen anderen Songs singt sie über ihre Liebe zu Frauen. Der Satz „Do you listen to girl in red?“ ist unter Frauen in der lesbischen Community ein Code geworden, um beim Gegenüber die sexuelle Orientierung zu erfragen. Es gibt im girl in red Shop auch ein T-Shirt, auf dem eben jener Satz groß rot auf weiß in einer Gedankenblase über girl in red schwebt, während sie mit einer Denkerpose tief grübelt. Gen Z Humor at its finest.
Jetzt aber zum Konzert in München. Schon vor der Halle fällt eins auf: Sehr wenige bis keine Männer. Die Securitys sind alle Frauen und die Männer müssen zu einem einzelnen männlichen Security gehen. Das genau umgekehrte Verhältnis wie bei einem Fußballspiel also. Ich fühle mich gleich sehr wohl. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht bin ich mir für einen kurzen Moment der Abwesenheit von männlicher Toxicity bewusst und habe so ein Gefühl, dass das gleich sehr schön wird. Wird es dann übrigens auch. Die Halle füllt sich und die Vorband Nieve Ella fängt an zu spielen. Und alle um mich haben so viel Bock und Energie auf die Vorband, wie bei manch anderen Konzerten nur beim Hauptact aufgebracht wird.
Es ist vielleicht ein ähnliches Phänomen wie bei Harry Styles oder Taylor Swift. Eine große Gruppe junger Frauen kommt zusammen, um einen Star anzuhimmeln. Ich meine das aber weder wertend noch despektierlich. Daniela Ammermann hat im DIFFUS Magazin einen Artikel darüber geschrieben, dass wir weibliches Fandom mehr für das anerkennen müssen, was es ist. Es ist nämlich komplex und vielseitig, anstatt klein oder lächerlich. Die ganze Ausführung würde aber an dieser Stelle zu weit führen. Wen es aber es interessiert, kann den Artikel Female Fandom Ich will nicht mit Harry Styles schlafen im DIFFUS Magazin Vol. 2 Seite 32 bis 36 nachlesen. Die Energie der Fans ist hier aber verglichen mit Harry Styles in München irgendwie weniger aggressiv, weniger aufdringlich. Beispiele: Leute machen füreinander Platz, treten sich nicht auf die Füße, entschuldigen sich beieinander, das große Paar vor uns geht extra an die Vorderseite der Technikinsel, um Menschen nicht den Blick zu nehmen. Das berührt mich.
Dann kommt sie. Und die Halle droht vor Energie zu zerplatzen. Da ist viel Bewunderung, aber auch viel Gelächter und viel Spaß um mich herum. Eine Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit kommt natürlich auch von girl in red. Nachdem sie jemanden aus dem Publikum bei einer Interaktion lange nicht verstehen kann, steht sie da ein bisschen lost auf der Bühne und sagt dann nach einer Pause: “That was like so awkward what I just did, but we’re all gonna die anyway, so it doesn’t matter.” Und rein in den nächsten Song. Dieses Mantra trägt sie durch den Abend, vielleicht durch ihr Leben. An einer anderen Stelle erzählt sie, dass sie heute um 13.30 Uhr aus dem Bett im Hotel gefallen ist (Big Gen-Z Energie), für alles zu spät war und es nicht einmal Zeit hat zu duschen und man deshalb ihre Haare entschuldigen soll, die sie unter einer roten Schiebermütze versteckt. Deshalb kommentiert sie sich selbst ganz richtig in I‘m back bei der Line „But, hey, I took a shower today.” Mit: “Wait! Actually I didn’t!“ Sie sagt, nachdem sie nicht mehr weiß welcher Song nach dem vorherigen kommt: „My shows are like… the most unscripted thing in the universe. I’ve got a setlist and that’s pretty much it.” Diese Energie macht einfach nur Spaß beim Zuschauen. Es muss nichts perfekt sein, es dürfen Fehler passieren, alles ist gut. Sie versingt sich, spielt ganz schief Klavier, vergisst Lyrics, fliegt von links nach rechts, stößt mit anderen Bandmitgliedern zusammen. Und? “We’re all gonna die anyway, so it doesn’t matter.”
Das Licht und die Bühne sind einfach nur toll und tragen viel zum Vibe bei. Rote, blaue und gelbe Animationen fliegen über einen großen Bildschirm im Hintergrund. Ihr Outfit – ein übergroßer Anzug, Hemd und Krawatte – ist ein wahnsinniger großer Ausdruck ihrer Identität. Statt Sexualisierung schafft ihre Kleidung Raum für Authentizität und Selbstbestimmung. Und dennoch bleibt sie die beeindruckendste Person auf der Bühne, strahlt eine unverkennbare Anziehungskraft aus, die jenseits von Konventionen liegt. Die sechs Männer in schwarzen Hosen und schwarzen Hemden gehen gegen sie total unter. Egal wie cool sie ihre Instrumente spielen. Wie sehr sie sich reinhängen. Die Königin des Abends ist sie. Und das weiß sie natürlich auch und sagt zwischen zwei Songs: “Look at all those beautiful lesbian and queer people here. I feel like all the lesbians of Munich are here. I’m like a lesbian magnet. That’s like, so sick. I couldn’t get any girls in highschool, but now look at me.”
Ich stehe in der Menge und denke, dort auf der Bühne ist die Utopie. Diese paar Quadratmeter der Erde sind das versprochene Paradies. Wenn ich girl in red so unkoordiniert, fast schon randalierend über die Bühne fliegen sehe, glaube ich kurz der Klimawandel ist aufgehalten, Kamala Harris ist Präsidentin, es gibt keine hypermännlichen Arschlöcher mehr, wir reden alle offen über unsere Gefühle, der Feminismus hat gesiegt und uns allen geht es richtig gut, weil wir lieben wen wir wollen, wie wir wollen. Ich stehe in der Menge und denke mir, wenn wir alle ein bisschen mehr so wie diese Frau da oben wären, wäre die Welt ein besserer Ort.
Ich stehe in der Menge und denke an Hannah Gadsby, australische und queere Comedian. Ich denke daran, was sie in ihrem Netflix-Special Nanette erzählt: Wie sie in Tasmanien an einer Bushaltestelle zusammengeschlagen wurde, weil sie mit der Freundin eines Fremden geflirtet hat. Der schlägt sie zusammen nicht weil sie mit seiner Freundin geflirtet hat, sondern weil sie lesbisch ist. Ich stehe in der Menge und denke an die Tante einer Freundin, die nach ihrem Coming Out in den 90ern allen Kontakt zu ihrer Familie abbricht. Aus Scham. Weil sie nicht weiß wie man noch reden kann. Ich stehe in der Menge und denke an jede lesbische oder anderweitig queere Person, die inside the closet ist und die es vor Scham und Selbsthass fast zerreißt. Ich denke an sie, an diese Frauen und Menschen und sage mir immer wieder in meinem Kopf: Wenn sie das sehen könnten, wenn sie hier sein könnten. Es ist so wunderschön und Trost spendend. Das hier. Dieses Konzert. Wie weit wir gekommen sind. Diese jungen Mädchen und Menschen, die so differenziert mit ihrer Sexualität, so offen mit ihrer Liebe sind. Die sich nicht verstecken müssen. Die sich selbst feiern dürfen. Die da sein dürfen, ohne gejudget zu werden. Ein Fest des Andersseins. Girl in red singt: „Cause I don’t know, what to do, it’s not like, I get to choose.“ Sie hält das Mikrofon Richtung Menge und diese singt, nein schreit: „Who I love. who I love. Who I love. Who I looooove.“ Ich stehe in einer Menge von schönen Menschen und ich kann nicht anders als dazustehen und zu weinen. Weil es schön ist. Schön hier zu sein. Schön am Leben zu sein, zur gleichen Zeit wie diese 3000 anderen anwesenden Menschen. Zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie girl in red.
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