Excuse me, have you guys seen Blonde yet?
Mein Blut gefriert. Ich sage nichts. Vor mir steht ein ende-zwanziger Fernsehmensch, der sich mit großen Augen und gezücktem Mikrofon bereit macht, jeden von uns, der den besagten Film gesehen hat, in ein Interview zu verwickeln. Hinter ihm hält sein Kollege eine Kamera, die zwar noch nicht direkt auf uns gerichtet ist, aber bedrohlich auf Hüfthöhe lauert, um bei einer leichtsinnigen Zusage sofort alles aufnehmen zu können. Aus den Augenwinkeln rechts von mir nehme ich zwei verhaltene Kopfschüttler wahr, dann drehen sich die Köpfe von Miriam und Jenny langsam zu mir und ich weiß, ich bin aufgeflogen. Am Vormittag des 8. Septembers habe ich nämlich bereits Andrew Dominiks heiß erwarteten Skandalfilm über Marilyn Monroe gesehen – zumindest die ersten 30 Minuten.
Panik weicht meiner Erschöpfung, die ich, auch nach dem abgeschlossenen Frühstück, welches ich in den restlichen 130 Minuten von Blonde verzehrte, noch nicht losgeworden bin und ich fange an, verzweifelt meinen Kopf zu schütteln. Viel mehr als ein kraftloses „No no no“ bringe ich nicht heraus. Der nette junge Herr vom schweizer Fernsehen gibt nach einigen Ermutigungen schließlich auf, möchte aber zumindest wissen, was mit meiner Filmerfahrung denn so falsch war, dass ich sie offensichtlich nicht vor laufender Kamera schildern möchte. Ihm gefiel der Film im Übrigen sehr gut. Natürlich ist die Frage berechtigt, warum ich, ein Cinephile, auf einem der wichtigsten und renommiertesten Filmfestivals die Gelegenheit aufgebe, den starbesetzten neuen Film eines provokanten und berüchtigten Regisseurs in Gänze zu sehen – wohlgemerkt noch vor der offiziellen Premiere, die erst in einigen Stunden nur wenige Meter von unserer Begegnung entfernt stattfinden wird. Und überhaupt, wer geht schon aus Filmen raus? Wenn es einem nicht gefällt, kann man ja vielleicht lernen, woran das liegt und so trotzdem einen Gewinn aus der Erfahrung ziehen.
Aber so einfach ist es manchmal nicht. Die Müdigkeit nach einigen frühen Morgen-Vorstellungen dämpft die eigene Motivation. Vor allem weil die vorherige 8:00 Uhr (!!!) Vorstellung von Florian Zellers The Son bereits ein großer Reinfall war, musste Dominiks Film überzeugen. Zusätzlich war meine Resilienz bereits, zusammen mit meinem Ego, durch die Platzfindung etwas angekratzt, da ich von meinem vermeintlichen Platz gescheucht wurde. Ich sank also auf meinem richtigen Platz, nicht Reihe 6, Platz 9 – Plateau, sondern Reihe 6, Platz 9 – Balkon, nieder und atmete tief durch. Das Schöne an der Filmfestival-Erfahrung ist, dass der richtige Film alle nervigen Kleinigkeiten des Drum-Herums belanglos werden lassen kann, wenn man von den Bildern an die Leinwand gefesselt wird. Die Hoffnung, dass mir eine solche Erlösung zum vierten Mal seit der Eröffnung der Biennale bevorstehen könnte, war zwar nicht allzu groß, aber dennoch vorhanden. Der Vorhang vor der großen Leinwand des edlen Sala Grande ging auf und es folgte der Prolog zu Blonde.
Ein technizistischer, überladener, selbstgefälliger und – natürlich – beispiellos misogyner Bilderhagel prasselt auf mich ein und ein Gedanke meldet sich, zuerst leise, dann aber deutlich hörbar:
Fliehe, du musst das hier nicht ansehen!
Müssen tue ich das ja tatsächlich nicht und im gleichen Moment wie sich der Gedanke formt, fühle ich Mitleid mit dem deutlich seriöser wirkenden Mann links neben mir, auf dessen Akkreditierungskarte vermutlich nicht Cinema (=unwichtige Studis) sondern Press (=relevante Profis) steht. Nicht jeder hat den Luxus, Veranstaltungen nach Lust und Laune umzubuchen oder abzubrechen. Artikel-Deadlines werden bei Vanity Fair, Indiewire und Co. ernster genommen als bei unserem Dispositiv und wenn es dein Job ist, über einen Film zu schreiben, reicht vermutlich nicht die Begründung “Gefällt mir nicht”, um nichts abzuliefern. Ich kann das dafür schon machen. Aber vielleicht bin ich auch zu voreilig mit meinem Urteil, vielleicht wird die nächste Szene ja besser… Schwenk auf ein Waisenhaus – oh Gott.
Nach der übernächsten Szene ist es klar. Ich werde Blonde nicht zu Ende schauen. Davor konnte ich zwar die lächerliche Filmästhetik nicht beschönigen, hielt aber an der Hoffnung fest, dass Ana de Armas’ Performance vielleicht einen anderen Impuls setzen könnte. Leider wurde ich enttäuscht. Das eintönige, infantile und – natürlich – sexualisierte Geschwafel hilft dem Ganzen nicht. Ab diesem Punkt setzt ein besonderer Rhythmus ein: Am Anfang jeder neuen Sequenz stelle ich mir die immer gleiche Frage: Jetzt? Ich bleibe aber sitzen, um zu sehen, ob der Film nicht vielleicht doch jetzt noch gut wird. Am Ende der jeweiligen Szene fasse ich dann wieder den Entschluss, den Anfang der nächsten Szene abzuwarten, um zu entscheiden, ob der Zeitpunkt günstig für mein Verschwinden sein wird. Der Prozess wiederholt sich ein paar Mal, aber nachdem ich zu der bitteren Entscheidung komme, dass Blonde vermutlich eher durch seine Gleichförmigkeit glänzen würde, fällt das Aufstehen dann doch ganz leicht. Dem leichten Schwindelgefühl, das sich durch das sich im Körper umverteilende Blut einstellt, weicht jedoch ein Schock. Ich befinde mich in der Mitte einer Sitzreihe. Na gut. Mit konstanten „Excuse me. Sorry.“-Gewisper steige ich über meinen Presse-Sitznachbarn und seine Kollegin*innen hinweg, stolpere zwischendurch über eine gelbe Tasche mit Löwenaufdruck, gelange aber schließlich zum Gang, der mich aus dem Saal führt. Endlich aus der Beschallungszone von Blonde heraus bahne ich mir meinen Weg die Treppe runter (Balkon, nicht Plateau) und durch das Foyer und gelange so schließlich wieder an die frische Meeresluft.
Normalerweise stürme ich nicht aus Kinosälen. Außerhalb der 10 Tage auf Lido gehe ich sowieso selten genug ins Kino, dass es immer noch etwas Besonderes ist und dann möchte ich die Magie auch in vollen Zügen auskosten. Geiz spielt da vielleicht auch eine Rolle. Ich habe 10 Euro gezahlt, also bleib ich sitzen, ob es mir gefällt oder nicht! Außerdem fällt meine Auswahl mit etwas mehr Bedacht aus, was derartige Fehltritte minimiert. Während dem Filmfestival schwingt das zwar auch alles mit, aber wenn Tage so voll wie möglich geplant werden und Vorstellung eher auf die Chance als die Sicherheit, dass man Spaß hat, bucht, dann steht man manchmal vor der Entscheidung, ob man sich durch den Rest des Films durchquälen will, weil es sich so gehört, oder ob man auf sein Innerstes hört und den Festivalaufenthalt ein Stück angenehmer macht. Finanziell macht es sowieso keinen Unterschied, weil unsere Studierenden-Akkreditierung es uns erlaubt, so viele (oder so wenige) Filme, wie wir wollen zu sehen und ob es nun einundzwanzig oder zwanzig-ein-halb Langfilme sind, ist für monetäre Abwägungen wirklich nicht relevant. In manchen Momenten fühlt es sich auch wirklich gut an, einem Film den Rücken zu kehren. Ich trete also selbstsicher in die Sonne mit der Gewissheit, dass mir ein Süßgebäck wichtiger ist als Andrew Dominiks blöder neuer Streifen.
Zwischen meinen Pudding-Croissant-Bissen und Cappuccino-Schlucken versuchte ich meinen Festival-Gefährtinnen die Erfahrung einigermaßen wiederzugeben. Die Beiden hatten es mit weiser Voraussicht vorgezogen, die Vorstellung auszusetzen. Nach beendetem Frühstück gehen wir aus dem Café-Bereich. Zwei Typen vom Fernsehen kommen uns entgegen.
Anderthalb Stunden später stößt unser Redaktions-Kollege Tim zur Gruppe, der den Film in voller Länge ausgeharrt hatte. Er bestätigt meinen Verdacht, dass mir keine großen Veränderungen in Form und Inhalt entgangen sind und beschreibt als beispielhaften Seheindruck eine mehrminütige, extrem unangenehme Blowjob-Szene. Seine Entscheidung, die 166 Minuten mal mehr, mal weniger wach durchzuziehen, kann ich respektieren. Ich fühle mich jedoch in meiner Wahl bestätigt.
Die 10 Tage der 79. Internationalen Filmfestspiele in Venedig stellen eine bereichernde Zeit dar. Es ist ein großes Privileg, einen so frühen und intensiven Einblick in die aktuelle Filmlandschaft zu bekommen. Dieses Privileg kann ich jedoch nur dann würdigen, wenn der Kinobesuch nicht zum lustlosen Zwang wird. Die frühzeitige Flucht aus dem Film hilft, die Begeisterung zu bewahren und den nächsten Kinobesuch wertzuschätzen.
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Header-Bild: © Netflix
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