Dieses Jahr waren einige der Dispositiv-Redakteur*innen auf den 79. Filmfestspielen in Venedig. Dank der Studenten-Akkreditierung war es uns möglich, viele neue Filme vor dem offiziellen Release-Datum zu sehen und natürlich auch die vielen Facetten der Stadt und des Festivalgeländes zu erleben. Über diese wollen wir euch in unserem Sammelartikel berichten!

Paul Schraders hoffentlich letzter Film – Jenny

Die Biennale verlieh wie jedes Jahr wieder den goldenen Löwen, um jemanden, der schon lange im Cinema-Business tätig ist, zu ehren. Letztes Jahr bekam Jamie Lee Curtis den goldenen Löwen von Venedig für ihr Lebenswerk. Daher war es nicht überraschend, dass die Halloween Kills-Darstellerin den Preis bei der Vorstellung des neuesten Films der Reihe überreicht bekam. Über die Qualität des letzten Jason-Slashers kann natürlich gestritten werden, jedoch können Curtis‘ Errungenschaften nicht geleugnet werden. Der goldene Löwe für das Lifetime Achievement wurde auch dieses Jahr wieder verliehen. Er ging an den Regisseur Paul Schrader. Dieser war auf dem Lido, um seinen neuen Film Master Gardener zu präsentieren. Schrader war bereits letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig zu Gast und lief bei der Premiere seines vorherigen Films The Card Counter über den roten Teppich. Ich möchte in meinem Beitrag Paul Schrader sein Lebenswerk nicht abstreiten. Mal als Verfasser von Skripten und mal als Regisseur hat sich Schrader viele Male bewährt. Dennoch war ich schockiert, wie viel Lob und Jubel seine letzten beiden Filme bekamen. So schreibt die Frankfurter Allgemeine beispielsweise: „Paul Schrader ist einer der wichtigsten Regisseure des „New Hollywood Cinema”, je älter er wurde, desto politischer wurden seine Filme.“ Mhm. Je älter er wurde, desto leerer und gleicher wurden seine Filme. Sowohl The Card Counter, als auch Master Gardener folgen demselben langweiligen Schema. Ein Mann mittleren Alters versucht seinen Alltag zu navigieren, doch er hat ein dunkles Geheimnis, das ihm das Triviale schwer macht. Dieses Geheimnis wird auch innerhalb der ersten 20 bis 25 Minuten gelüftet. Mal ist der Hauptdarsteller ein Ex-Soldat, der als Folterer im Militärgefängnis tätig war, mal ein stark tätowierter Neo-Nazi-Aussteiger. An sich ja kein Problem, wenn auch nicht das Einfallsreichste. Die Charaktere sind so geschrieben, dass es einem möglichst leicht fallen soll, mit ihnen Mitleid zu haben. Sie bekommen im Film auch eine Chance auf Wiedergutmachung. Entweder durch einen jungen, rache-geplagten Schützling, der demselben Hobby nachgeht, oder durch eine begehrenswerte, rebellische, signifikant jüngere Frau, die man bevormunden muss und in die man sich verlieben darf. Beide Protagonisten haben ein Hobby, das zusammen mit ihrer Vergangenheit ihre gesamte Persönlichkeit ausmacht. Kartenzählen und Gärtnern sind dabei beides sehr ruhige Beschäftigungen, die wohl im Kontrast zu ihren bewegten Vergangenheiten stehen sollen. Sehr tiefgründig. Zumal beide sich ihren neu gefundenen Bestimmungen abwenden, um doch wieder in alte Verhaltensmuster zurückzukehren. Aber natürlich erst, als das Leben der beiden Protagonisten durch ihre Sidekicks und deren persönliches Elend auf den Kopf gestellt wurde. Nämlich Rache am Mörder des eigenen Vaters nehmen zu wollen, der zufällig Ex-Kollege des Hauptdarstellers war, oder der Kampf mit der eigenen Drogenabhängigkeit und dem Crackhead-Ex-Boyfriend. Beide Hauptdarsteller fallen wieder in alte Handlungsmuster, aber natürlich hatten sie keine andere Chance. Wie hätten sie sonst die Konflikte ihrer Schützlinge austragen sollen? In den letzten 20 Minuten wird also der gesamte Redemption-Porno wieder nichtig gemacht. 

Statt Paul Schraders neue pseudo-politische und mit leeren Charakteren gefüllte Filme The Card Counter und Master Gardener zu gucken, sollte man vielleicht lieber einen Taxi-Driver-Rewatch in Erwägung ziehen. 

Für Tilda Swinton würde Ich Sterben – Miriam

Venedig, Italien. Die Biennale 2022. Der rote Teppich. Stars, Kameras, Mikros, flotte italienische Fernseh-Menschen mit zu viel Gel in den Haaren, kreischende junge Frauen. Wer walked denn da aus dem Lexus raus? Ist es wohl Harry Styles? Oder Hillary Clinton (warum ist sie hier?!)? Sind es Adam Driver und Greta Gerwig? Vielleicht ist es Mia Goth in einem klassisch taillierten schwarzen Kleid (sehr schön).
Nein, für die schreie ich nicht rum, für die bin ich nur ein kleiner Teil einer größeren Masse, die auf den Zehenspitzen und mit weit aufgerissenen Augen kurze, schnelle Blicke von den Stars kriegen will. Mit ein wenig Glück schafft man es dann auch, ein extrem pixiliertes Foto der Stars mit dem eigenen veralteten Android Handy zu machen. Da erkennt man eh fast nichts, aber die Bilder kann man ja immer herzeigen; flexen, guck mal, ich war da, ich hab Timothée Chalamet von weitem gesehen, ha!

Trotzdem sind sie mein Schreien nicht wert, ich bin kein Schaf, kein Kapitalismus-Opfer, kein Celebrity-obsessed Tween, wie ich es damals war. Ich bin eine erwachsene Frau. Mir ist bewusst, dass sie nur Menschen sind, die auch mal schwitzen und pissen müssen. Ihre Existenz und ihre Glorifizierung repräsentiert eine ideologische Ablenkung von den Problemen dieser Welt, während ihr Aussehen die Fetischisierung und die Aufrechterhaltung unerreichbarer Schönheitsideale ermöglicht. Celebrity-Kultur ist toxisch und problematisch, okay?  
Ohnehin habe ich für die eine oder andere Celebrity doch laut nach Luft gejapst. Das gelegentliche “Oh mein Gott, Queen, slay!” musste ich natürlich auch äußern. Aber nie zu laut.

Gegen 16 Uhr am 6. September 2022, stand ich aber mit Co-Redakteur Tim in der prallen Sonne an der Barriere vom Roten Teppich, habe da gewartet und die toxische Celebrity-Kultur reproduziert.

Ein bekannter Soundtrack kam aus den Boomboxen des italienischen Radiosenders und kreierte eine unheimliche Atmosphäre. “Das kommt mir jetzt echt bekannt vor, das ist so ein iconic Soundtrack, oder?“ fragte ich Tim. Er zuckt mit seinen Schultern. “Das ist der Soundtrack von Vertigo,” sagte eine nasale deutsche Stimme hinter uns, die uns verstanden hat.

Wir standen bestimmt 40 Minuten da, haben laut und aufgeregt geredet, gelacht, haben den schönen Kameramann beobachtet. Wir haben in meiner Tasche nach irgendwas gesucht, das eventuell signiert werden könnte, sollte sie an uns vorbei kommen (sehr unwahrscheinlich). Ein Ticket für eine historische Kirche hatte ich noch. Gut.
Ich checke mein Handy. 16:35 Uhr. 
Sie kommt jetzt irgendwann mit dem Lexus angefahren. Jetzt?

Oh mein Gott, jetzt! 

Am anderen Ende vom Roten Teppich steigt sie aus dem Lexus raus. Groß – viel größer als ich dachte – mit grell-gelben, kurzen Vogelnest-Haaren. Ein glänzendes Kleid mit langen Ärmeln in lila hatte sie an. Ätherisch und Alien-artig, riss sie mir den Boden unter den Füßen weg. Sie bewegte sich, ging in langen nobeln Schritten hin und her, hat Selfies mit den Massen gemacht und ließ sich von den Italienern interviewen. Der geloopte Vertigo Track, ihr Kleid, ihre Präsenz – es hat nicht lange gedauert, bis die Gruppen neben uns für sie geschrien haben.
Ungezwungen hat sich mein Mund geöffnet, meine Stimmbänder haben sich angespannt.Eins, zwei, drei, komm in den Rhythmus der Masse rein und…
“TILDA!!!” schrie ich, so laut ich konnte.

Die omnipräsente Sprache – Tim

Es lässt sich nicht abstreiten, dass das altbekannte Sprichwort “Deutsche Sprache, schwere Sprache”, durchaus sehr nah an der Realität ist. Mit vielen verschiedenen Artikeln, Endungen und Zeitformen ist sie nicht unbedingt die einsteigerfreundlichste Sprache, die man erlernen kann. Glücklicherweise hat sich da Englisch als Lingua Franca herauskristallisiert, sodass ich trotz Sprachbarrieren in der heißen italienischen Mittagssonne auf dem Festivalgelände der Biennale mit dem breitesten amerikanischen Akzent “One Sandwich Vegetariano please” bestellen kann. Gottseidank sind die Italiener*innen was das angeht sehr großzügig, wenn vor ihnen ein junger Mann steht, der gerade die komplette Aussprache ihrer Sprache niedermetzelt. Jedoch müssen sie das auch, gerade in einem Touristenort wie Venedig und wenn dazu auch noch die Internationalen Filmfestspiele sind. Läuft man da über das Festivalgelände, so hört man von allen Seiten verschiedene Sprachen: Italienisch, Englisch, Französisch, Japanisch und auch gelegentlich die ein oder andere deutsche Stimme bei der man sich dann verdutzt kurz umdreht und erst verarbeiten muss, dass man diese Person gerade verstanden hat. 

Das man sich nicht auf der deutschen Sprache im Ausland ausruhen kann war mir klar, jedoch dachte sich die Jury der Biennale anscheinend genau das Gegenteil. Mit großer Verwunderung bemerkte ich, dass anscheinend in diesem Jahr ein Trend zur deutschen Sprache entstanden ist. In mehreren Filmen tauchten auf einmal Figuren auf, die deutsch sprachen; ich saß in den Kinosälen und ich spürte ein warmes Gefühl in meinem Herzen. Es ist nicht so, als könnte ich kein Englisch verstehen oder dass es mich stört, konstant die Untertitel lesen zu müssen, sondern das Gegenteil. Es entstand ein kleines Überlegenheitsgefühl, was mein Anschauerlebnis stark verbessert hat.

In Cate Blanchetts neuem Film “Tár” geht es beispielsweise um das fiktionale Leben der ersten weiblichen Dirigentin der Berliner Philharmoniker. Schon bereits vor der Anreise nach Venedig war der Film einer meiner antizipiertesten des ganzen Festivals: Cate Blanchett und die klassische Musik als die zentralen Hauptfiguren, da kann nichts schief gehen – zum Glück konnte ich Deutsch. Der Film an sich ist wirklich nicht schlecht, er ist an manchen Stellen zwar etwas problematisch, aber im Großen und Ganzen empfehlenswert. Allerdings lag der Fokus leider weniger auf der Musik (wie beispielsweise in Whiplash (2014)), sondern eher auf der Figur von Lydia Tár, was ich mir etwas mehr gewünscht hatte. Ich möchte anmerken, dass bei der Biennale allgemein immer sowohl die italienischen und englischen Untertitel gezeigt werden, damit alle Zuschauenden dem Geschehen folgen können. Der Grund, wieso ein gewisses Überlegenheitsgefühl aufgekommen ist, ist, dass bei Tár Vieles, das Cate Blanchett auf deutsch gesprochen hat überhaupt gar nicht übersetzt wurde und genau das war für mich persönlich eine der interessantesten Stellen des Films. Es waren die Momente, als Lydia als Dirigentin mit den Musiker*innen interagiert und über die Musik redet, die sie spielen. Das war genau das was ich mir vorgestellt habe und jetzt konnte ich es auch noch verstehen! Während die anderen internationalen Gäste und Italiener*innen einer Frau zuschauten, die Unverständliches von sich gab, konnte ich mehr von der Figur lernen und sie besser verstehen.

Die Deutsche Sprache in Noah Baumbachs Film “White Noise” war keine große Überraschung, da die Hauptfigur ein Star-Professor über Hitler ist, wurde hier jedoch auch gegen Ende des Films vermehrt und über längere Zeit einfach auf Deutsch kommuniziert. Auch hier schlich sich wieder eine Art Gemütlichkeit ein, welche auch nicht durch die teils schlechte Aussprache oder Lars Eidingers Präsenz auf der Leinwand gestört werden konnte. 

Das wohl unvorhersehbarste Erlebnis war aber dann letztendlich bei der Mitternachtspremiere von Ti Wests neuem Horror Slasher “Pearl”.  Nachdem wir schon einen langen Festivaltag hinter uns hatten und gespannt um kurz nach 0 Uhr in dem Sala Grande zusammen mit Ti West und Mia Goth persönlich Platz nahmen, starrte ich verwirrt auf die Leinwand und traute meinen Ohren kaum. Die Figur von Pearls Mutter war eine Deutsche, welche nur in manchen Fällen Englisch sprach und hauptsächlich in einem etwas gebrochenem Deutsch mit ihrer Tochter sprach, welche dann auf Englisch antwortete. Zugegebenermaßen war das zu Beginn des Films etwas überfordernd für mein kleines schon reizüberflutetes Gehirn jedoch konnte ich mich daran gewöhnen. Immer wieder musste ich mir jedoch die Frage stellen: “Warum hat er nicht einfach eine deutsche Schauspielerin mit der Rolle besetzt”, denn sie hat es zwar gut gemeistert, aber Deutsch ist letzten Endes eine schwere Sprache.

Obwohl das deutsche Kino nicht in Venedig angekommen ist (vielleicht ist das auch besser so *hust* bitte keine Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer Filme mehr *hust*), ist die deutsche Sprache auf jeden Fall repräsentiert.

Groundhog Day – Jenny

Hier bin ich also wieder. Ich stehe in der Warteschlange des Akkreditierungs-Schalters der 79. Filmfestspiele und warte darauf, meinen Personalausweis vorzuzeigen, um im Gegenzug einen grünen Cinema-Pass zu erhalten, der mir die nächsten 11 Tage um den Hals baumeln wird. Als ich dann nach wenigen Minuten am Schalter stehe, geht alles schnell. Ein halbwegs motivierter junger Mann guckt meinen Perso an, tippt etwas in den Computer, und sammelt dann den Biennale-Cinema-Pass, ein Vaporetto Ticket und eine knallig gelbe Tasche ein und überreicht mir alles. Schön.

Ich trete also, zusammen mit meinen neuen, treuen Wegbegleitern für die nächsten Tage aus dem stark klimatisierten Gebäude heraus, um das restliche Gelände zu erkunden. Das Biennale Gelände auf dem Lido hat sich im Vergleich zum letzten Jahr nicht wirklich verändert. Die Snackbar steht 20 Meter versetzt und der in den Boden eingelassene Springbrunnen läuft nicht und sieht auch ein wenig schmutzig aus. Schade. Sonst ist alles beim Alten. Kinosäle, Dixi-Klos, der Pizzastand und die Eisdiele sind alle noch am selben Ort. Auch die Gerüche und Geschmäcker haben sich nicht verändert. In den Kinosälen ist es außerdem immer noch ein wenig zu kalt und der Ton immer noch ein wenig zu laut. Diesmal habe ich mich vorbereitet. Pulli, Socken und Konzertohrstöpsel sind eingepackt. Nichts kann mich mehr überraschen! Denkste. 

Auf dem Weg zum ersten Film, The March on Rome, gucke ich auf mein hart erkämpftes Ticket, um mich darauf vorzubereiten, meinen Sitzplatz zu finden. Ich will nicht wie manch anderer Besucher unnötig über die Schöße vieler hinweg steigen müssen. Im Saal wird mir dann bewusst, dass die Kapazitäten dieses Jahr voll ausgeschöpft werden. Es wird kein Platz mehr freigelassen. Also setzte ich mich zwischen zwei andere Festivalbesucher, die die Armlehnen schon für sich beansprucht hatten. Mental Note: Nur noch Plätze am Rand buchen. 

Wieder draußen angelangt, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Es ist Zeit etwas zu essen. Die Entscheidung ist nicht schwer. Pizza soll es sein. “One Margarita and one Coke, please.” sage ich und krame schon mal meinen Geldbeutel heraus. “And your name?” bekomme ich als Antwort. “Jenny”. “Genny?”. “No, Jenny, with a J.”. “Ah, ok”. Der Mann am Schalter nickt mit dem Kopf, auf dem Zettel steht trotzdem Genny. Halb so wild. 

Beim Essen höre ich die Geräusche des nicht weit entfernten Strands. Es wird Zeit die Füße zu baden, bevor der nächste Film startet. Gesagt, getan. Ein paar Muscheln hab ich auch gefunden. Auf dem Weg zurück zum Gelände will ich meine Füße noch entsanden, ich trage zwar Birkenstocks aber ich kann mich nicht dazu überwinden mit sandigen Zehen weiter zu gehen. Eine Bank. Perfekt. Kaum habe ich mich hingesetzt, kommt auch schon ein Herr in Uniform und weist mich darauf hin, dass die Bank zum Hotel und dessen Privatstrand gehört und ich hier nicht sitzen darf. Mhm. Okay, dann setze ich mich eben 2 Meter weiter auf den Boden. Er guckt zufrieden. 

Nach dem zweiten Film wird es Zeit, dass ich mich auf den Nachhauseweg mache. Ich bin müde. Vor der wohlgemerkt einzigen Vaporetto-Haltestelle auf dem Lido stehen mehrere hundert Leute. Nach 15 Minuten warten, kann ich auch endlich an Board der Linie 20 gehen. Eine liebliche Stimme ruft: “San Marco, San Zaccharia! Mascerina!”. Auf dem Schiff geht ein leichter, angenehm kühler Wind und der Sonnenuntergang kann bestaunt werden.

Wieder in Venedig angekommen, stehen mir noch einige Brücken bevor, bis ich endlich ins Bett fallen und diesen Tag noch 10 mal wiederholen kann.

Vivaticket – Tamara

“Vivaticket = Fascismo digitale” schreit ein Kommentar der Kommentar-oder-doch-eher-Wut-Wand am Gelände der Biennale. Vivaticket ist jene Plattform, auf der Biennale-Besucher:innen dieses Jahr Tickets bzw. Plätze für die vielen verschiedenen Filmvorstellungen buchen konnten. Und wie wohl auch schon viele Jahre zuvor auf anderen Plattformen, war es auch dieses Jahr keine einfache Aufgabe. 

So fing es an: Am Sonntag, den 28. August öffnet zum ersten Mal das Ticketportal für Akkreditierte. Um 7 Uhr morgens. Man macht sich also am besten schon am Vortag eine Liste mit den zu buchenden Filmen, aber Moment, welche Vorstellungen sind eigentlich für mich? Hier steht Public aber heißt das jetzt für alle mit Akkreditierung oder für alle, die dafür was zahlen, und wieso gibt es auf der Biennale-Website keine einzige Übersicht für alle Vorstellungen an einem Tag und man muss stattdessen endlos scrollen? Ach, es gibt zwei verschiedene Buchungssysteme, jeweils für die Hälfte der Kinosäle? Warum? Und jedes System hat eine eigene Warteschlange und man kann nicht hin- und herwechseln und die Buchungen funktionieren auch noch leicht unterschiedlich?? Warum??

Und so verbringt man an einem schönen Sonntagmorgen also zwei Stunden in der Vivaticket-Hölle, mit jeder erdenklichen Fehlermeldung und am Ende mehreren gebuchten Filmen, aber auch mehreren semi-überstandenen Nervenzusammenbrüchen.

Und am Dienstag geht es genauso wieder weiter, und ab dann jeden zweiten Tag. 7 Uhr Vivaticket auf, Liste parat, frustriert 20 Minuten in der Warteschlange, Filme gebucht, nochmal 25 min Warteschlange, nochmal Filme, und wieder ins Bett. Oder schön wärs, wenn das nicht auch der Anreisetag nach Venedig wäre und man noch packen muss und Essen zusammensuchen muss und Entertainment für die sieben Stunden Zug wären ja auch schön und – das wars dann mit dem Nap.

Das ganze fühlt sich an wie eine Mischung aus Satire und klassischer kapitalistischer Ausbeutung. Denn als nur billige Cinema-Pass-Besitzer:innen, im Gegensatz zu den Presse- und Industrie-Menschen mit ihren blauen oder roten Pässen, haben wir nur Zugang zu einigen wenigen Vorstellungen pro Film und können darüber hinaus noch kurzfristig auf Tickets in den anderen Screenings hoffen. Ein Lichtblick: Diese gibt es immer ab Mitternacht, was durchaus besser in den Tagesplan einer Studierenden-Truppe passt als 6:45 Uhr. 6:45? Nicht 7 Uhr? Ach ja, da viele Vorstellungen schon um 8 Uhr beginnen und Zuschauer:innen ihre Anreise zum Lido deshalb recht früh beginnen müssen, oder warum auch immer, hat sich die Biennale dazu entschieden, den Buchungsbeginn noch einmal eine Viertelstunde nach vorne zu ziehen. Welche Vorstellungen beginnen so früh? Natürlich die für den Cinema-Pass-Pöbel, der doch eigentlich schon eh arm genug dran ist, sollte man meinen. Das führt dann dazu, dass im Herauseilen aus der Ferienwohnung nicht nur Biennale-Pass, Maske und Beutel auf- oder umgeschmissen werden, sondern in der gleichen Bewegung auch noch die blöde Website mit ihren verhöhnend rot lachenden “Book”-Buttons aufgerufen wird. Im besten Fall kommt man genau dann ins Buchungsportal und muss schnell buchen, während man über die wackelige Brücke in den Wasserbus steigt und dabei versucht, nicht in irgendjemanden reinzulaufen oder das Handy über Bord zu werfen. Spätestens bei der dritten Ausgabe dieses Buchungswahnsins ist mir sowas wie Vivaticket = Facismo digitale auch in den Kopf gesprungen, wenn auch nicht auf Italienisch. 

Biennale-Besucher:innen müssen wirklich eine ganze Reihe besonderer Fähigkeiten mitbringen, um diese Odyssey zu überstehen: Von Geduld, Resilienz und dem 22-6-Uhr-Schlafrhythmus meiner Großeltern bis zum ausgeprägten Verständnis digitaler Plattformen, um es auch bis zum Ende des Buchungsverfahrens zu schaffen. Da ist es wenig verwunderlich, dass manche ihren Frust laut kundtun. 

Hasstirade: The Son um 8 Uhr morgens – Jonas

Dass man bei einem Biennale-Besuch nur bedingt von Urlaub sprechen kann, habt ihr ja schon aus den anderen Beiträgen herauslesen können. Wer steht im Urlaub schon freiwillig um 6 Uhr auf, nur um sich einen Film anzuschauen? Ich jedenfalls nicht. Der Wecker klingelt, wir fallen widerwillig aus dem Bett, essen unser Frühstück aus Tassen und Töpfen (weil die Ausstattung unserer Ferienwohnung in dieser Hinsicht mehr als notdürftig ist) und machen uns wie immer ein paar Minuten zu spät auf den Weg zum Vaporetto – alles in der Hoffnung, dass der 8-Uhr-Film mindestens mit 3,5 Sternen auf Letterboxd bewertet werden kann. 

An diesem Tag sind die Erwartungen groß: Florian Zeller spielt mit seinem neuen Film The Son auf, dem Nachfolger des zweifach Oscar-prämierten The Father. Da die Bootsfahrt mehr als ungünstig lief (wahrscheinlich hatte der Kapitän seinen ersten Arbeitstag), stolpern wir in den schon dunklen Saal und suchen mit gedimmtem Handylicht nach unserem Platz, gerade so noch pünktlich. 

Über das, was dann kam, will eigentlich keiner aus unserer Gruppe mehr sprechen. Nur so viel: Auch eine Woche später – bereits wieder in Deutschland – hat der Film noch eine mittelschwere “Beziehungskrise” mit meiner Freundin ausgelöst. Und das, obwohl wir eigentlich alle einer Meinung waren: The Son ist ein ziemlicher Scheißfilm. Florian Zeller hat es also irgendwie hinbekommen, dass sich sogar Menschen über seinen Film streiten, die ihn eigentlich alle nicht gut finden. Unserer Letterboxd-Reviews sind sich einig: “not helpful in any-fucking way”, “fuck this movie”, “cheap”, “painfully mid, kinda just bad”, “absolute horseshit”. 

Im Film geht es um ein geschiedenes Paar, dessen Sohn an Depressionen leidet. Der Vater trennte sich von der Mutter und hat mittlerweile eine neue Familie. Dabei macht Florian Zeller so ziemlich alles falsch, was man aus woke-Perspektive (affectionate) falsch machen kann: Der Fokus liegt zu sehr auf den Eltern, der Sohn bleibt als Figur ziemlich blass bis unsichtbar. Wir sehen mal wieder nur das Schicksal von reichen und weißen Menschen. Dazu lässt der Film zahlreiche Möglichkeiten aus, die Macht der Psychiatrie (Foucault!) oder den Umgang der Gesellschaft mit psychischen Krankheiten zu kritisieren (“You’re making me sick!” ruft besagter Son in einer Schlüsselszene). Natürlich kann ein Film nicht alles leisten, aber so konsequent von mehreren offenen Türen durch gar keine zu gehen, das habe ich lange nicht mehr gesehen – besonders bei so einem wichtigen Thema. Und wie gute Linke können wir uns sogar darüber streiten, was einen Film schlecht macht, weil die Gewichtung in der oben genannten Liste natürlich individuell war. Das Ende möchte ich euch nicht nur aus Spoiler- und Triggergründen ersparen. Schaut euch diesen Film nicht an, schon gar nicht um acht Uhr morgens.

Ach ja: The Son erhielt von uns eine durchschnittliche Letterboxd-Bewertung von etwas mehr als einem Stern. 


Die Facetten der Filmfestspiele waren vielseitig. Zwischen den eher schlechten Filmen und Erfahrungen, haben sich aber natürlich auch gute gesammelt. Memorabel waren unter anderem die Mitternachtspremiere von Pearl, bei der Mia Goth höchstpersönlich anwesend war und die vielen leckeren Pizzen, die gegessen wurden! Vielleicht haben wir ja ein paar von euch Lust gemacht, diese ganz besondere Erfahrung auch mal zu machen. Oder möchtet ihr euch lieber weiter mit uns austauschen? Dann kommt doch zu den Dispositiv Sitzungen im neuen Wintersemester! Infos kommen bald, bleibt gespannt!