Seit April gibt es auf Netflix die Anime-Serie “Aggretsuko”, in der das entfremdende Doppelleben einer japanischen Büroangestellten beleuchtet wird. Die Serie der Fanwork Studios hat die absurde Prämisse, mithilfe von antropomorphen Tieren im glitzernden Kawaii-Look die patriarchalische und disziplinarische Arbeitskultur Japans durch den Dreck zu ziehen.
Wer beim ersten Blick an zuckersüße Kinderserien wie “My Little Pony” denkt, liegt nicht ganz falsch. Die Figuren sind im sogenannten Chibi-stil gezeichnet. Merkmale sind große Köpfe und Augen sowie Seestern-förmige Körper. Der Hintergrund: Die Firma, die hinter “Aggretsuko” steht, ist das japanische Unterhaltungs- und Werbeunternehmen Sanrio, das unter unzähligen kinderfreundlichen Animefiguren auch die im westlichen Markt bekannt gewordene “Hello Kitty” produziert.
Ernste Satire in knuffiger Optik
Aber wieso sticht “Aggretsuko” so aus diesem Bällebad der quietschbunten Figuren heraus? Und warum ist die Altersempfehlung bei Netflix reife 12 Jahre, obwohl die Ästhetik doch eher an Überraschungseier und verschluckbare Kleinteile erinnert?
Nun, wer sich eine Weile auf “Aggretsuko” einlässt, wird erkennen, dass die Serie sich eigentlich an junge Erwachsene richtet. An Menschen, die noch nicht genau wissen, was sie vom (Arbeits-)Leben zu erwarten haben. Und das vor dem Hintergrund einer Arbeitswelt, in der Profit wichtiger ist als Ethik, und gute Laune am Arbeitsplatz sofort Verdacht erregt. Inhaltlich ist “Aggretsuko” zwar nicht Kindergefährdend, doch jüngeren Zuschauern wird, neben den visuellen Gags, die eigentliche Satire der Serie entgehen.
Nie ‚Kündigung‘ am Firmen-PC googlen!
Die Protagonistin Retsuko arbeitet in der Buchhaltung eines nie genauer benannten Handelsunternehmens und wird von ihren Kollegen als niedlich und sehr gewissenhaft wahrgenommen. Doch Retsuko hat ein Geheimnis. Im Kontrast zu ihrer äußeren Fassade wird sie erst in der Einzelkabine der Karaokebar zu ihrem wahren Selbst: Aggretsuko. Dort brüllt sich der niedliche Panda mit brutalem Death Metal den Frust der Millennial-Generation von der Seele.
Verständlicherweise versucht Retsuko, dieses Geheimnis um jeden Preis zu hüten. Was nicht einfach ist, bei aufdringlichen Kolleginnen, die auch mal Retsukos gesamtes Social-Media-Verhalten einer psychologischen Ferndiagnose unterziehen und einem tyrannischen Chef, der ihren Browserverlauf durchwühlt (niemals “Kündigungsrecht” am Firmen-PC googlen!).
Kawaii-Metal als neues Genre?
Man erkennt schon: die Serie bleibt nicht subtil, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Druck, Sexismus und Machtmissbrauch aufzuzeigen. Auch Themen wie übermäßiger Alkoholkonsum auf der Firmenparty oder “Karōshi”, das japanische Wort für ‘Tod durch Überarbeiten’, wozu auch der stressverursachte Suizid gehört, werden thematisiert.
Wer das ‘Otaku’-sein (jap. “Nerd”) ganz ernst nimmt und die Serie in Originalsprache schauen möchte, wird bei “Aggretsuko”auf seine Kosten kommen. Der Sprachduktus mit all seinen “-kun”s und “-sensei”s birgt für europäische Ohren ein spezielles Erlebnis. Die Serie wurde jedoch nicht umsonst in vier europäische Sprachen übersetzt. Offensichtlich gibt es auch in Europa eine steigende Nachfrage nach Kawaii-Metal und “Aggretsuko” ist praktisch dessen Vertreter in der Serienwelt von Netflix. Ob dieses Genre sich halten wird, lässt sich schwer sagen. Bis Dahin hoffen wir mal das die Gerüchte im Internet wahr sind und 2019 die zweite Staffel “Aggretsuko” erscheint.
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