Dezember 2022:
Es ist wrapped-Zeit! Was auch immer das bedeuten mag. Meine Freund*innen stehen, die Köpfe tief über ihre Handybildschirme geneigt, in einem engen Pulk beisammen. Der grüne Streamingriese präsentiert ihnen gerade in knallbunten Grafiken, was er über sie und ihr Hörverhalten alles so an Daten gesammelt hat. Ich stehe einige Schritte daneben. Allein. Nein, ich habe tatsächlich kein Spotify. Ich lache. Ich beobachte das Treiben aus sicherer Distanz. Das wrapped am Ende des Jahres scheint das uneingeschränkte Highlight eines und einer jeden Spotify-User*in zu sein. Was ich dem gegenüber verspüre, lässt sich wohl eher als Abneigung beschreiben. Ich brauche keinen Multi-Milliarden-Dollar-Konzern in meinem Leben, dem ich volle Einsicht in meinen Musikgeschmack gebe. Überhaupt ist das Streaming, wie es Spotify praktiziert, bekanntlich für unbekanntere Artists absolut existenzgefährdend. Nicht mit mir. Ich will nicht Teil dieses konsumorientierten, schnelllebigen und oberflächlichen Netzes werden, das die Musik entzaubert und Songs, Alben und Künstler*innen zu bloßen Produkten werden lässt. Und dennoch bleibt ein Funke der Neugier. Ich blicke auf meine Freund*innen, die noch immer begeistert ihre Jahreszusammenfassungen bestaunen.
Januar 2023:
Der kleine Funke der Neugier schafft den Sprung ins neue Jahr, wo er ein loderndes Feuer entfacht, das letztlich auch zum Verfassen dieses Artikels geführt hat: Na gut. Ich werde mir Spotify installieren. Jedoch nicht einfach so – nicht als stumpfer Konsument. Ich gebe meiner Nutzung dieser App einen experimentellen Charakter. Ein Jahr will ich – bisher unberührt im Streaming von Musik – Spotify nutzen und dabei meine Erfahrungen, Highlights, sowie mögliche Veränderungen in meinem Musikgeschmack und Hörverhalten festhalten. Noch glaube ich kaum an ein erfolgreiches Experiment: Ich glaube, mein sehr vielfältiger Musikgeschmack, in früher Kindheit geprägt durch die Plattensammlung meines Vaters, später über CDs und vor allem YouTube in Richtung der Rockmusik der 50er und 60er Jahre sowie deutschen Hip Hop, den Swing der 1920er, Funk, Soul, Heavy Metal, Folk und Punk erweitert, ist für Spotify schlichtweg schwer greifbar.
Februar 2023:
Noch besteht meine Mission darin, Spotify meinen Musikgeschmack beizubringen. Ich habe innerhalb einer Woche rund 400 Lieblingssongs hinzugefügt und höre diese rauf und runter. Wie gut der Spotify-Algorithmus auch mit vielfältigen Musikgeschmäckern umgehen kann, wird mir schnell bewusst: Immer häufiger bietet mir Spotify Songs oder Künstler an, die ich bereits kenne, aber noch nicht zu meinen Lieblingssongs oder eigenen Playlists hinzugefügt habe. Auch einige neue Künstler*innen und Songs haben sich bereits in meine Playlists geschlichen, noch bewegt sich das meiste allerdings in mir vertrauten musikalischen Stilen. Was sich allerdings bereits ankündigt und mich im weiteren Verlauf des Jahres noch an meine persönlichen Grenzen bringen sollte, ist die Werbung, die all jenen zugeschalten wird, die nicht bereit sind, für Spotify nicht nur mit der Weitergabe einer Unmenge an individuellen Nutzer*innendaten, sondern auch mit bis zu 10 Euro im Monat zu bezahlen.
März 2023:
Nach einigen Wochen jedoch entdecke ich durch Spotify eine neue große Liebe in mir: Meine Leidenschaft für Podcasts. Durch die Suchfunktion finde ich Podcasts über Podcasts zu Themen meiner Interessensgebiete, die ich exzessiv höre. Nach wenigen Wochen schleicht sich dank der Sleeptimer-Funktion die Gewohnheit ein, Podcasts auch zum Einschlafen zu hören. Eine Gewohnheit, die ich noch das gesamte restliche Jahr beibehalten sollte. Überhaupt regt mich Spotify zunehmend zur Dauerbeschallung an: Jede Bus- oder Zugfahrt, jeder Fußweg, jedes Staubsaugen wird ab jetzt von Spotify begleitet. Ob dies an Spotify selbst liegt, kann ich nicht sagen. Als ich Musik ausschließlich offline oder über YouTube gehört habe, war das jedenfalls nicht so.
Juni 2023:
Spätestens jetzt wird es wohl Zeit, über Spotify Free zu sprechen. Die Manipulationstechniken, Einschränkungsmethoden und Fallen, mit denen der Streamingdienst seiner Nutzer*innen zum kostenpflichtigen Abo-Modell zu treiben versucht, sind zu zahlreich, um in diesem Format auch nur annähernd umrissen werden zu können. Und dennoch muss ich von meinem Leid erzählen, es geht nicht anders. Zu tief sind die Wunden, die ein Jahr Spotify Free bei mir hinterlassen haben. Im Anfang war alles so wunderbar: Die Möglichkeiten schienen grenzenlos. Playlisten erstellen, Songs in die Warteschlange packen, beliebig viele Songs überspringen, Songs und Alben per Suchfunktion finden und einfach anhören. Spotify Free verunmöglicht seinen Nutzer*innen dies nach wenigen Wochen. Dadurch, dass das Überspringen von Songs, sowie das Streamen ausgewählter Songs aus einer Playlist nicht möglich sind, drängt mich der Streamingdienst förmlich in bestimmte musikalische Ecken, da der Algorithmus selbstredend davon ausgeht, die vorgeschlagene Musik, bei der ich verzweifelt „Jetzt skip doch die Scheiße!“-brüllend vor dem Bildschirm sitze, entspreche ganz und gar meinem persönlichen Geschmack, und mir mehr von dieser oder ähnlicher Musik anbietet. Das Hören von Musik abseits des Stroms, in den einen der Streamingdienst drängt, wird also durch Spotify Free aktiv erschwert.
August 2023:
In unserem eigenen Schweiß gebadet sitzen ich und ein Freund von mir auf Bei- und Fahrersitz eines weißen Golf 6. Während die Bergseen der Schweiz, die felsigen Landschaften der französischen Mittelmeerküste und die Ebenen Norditaliens an uns vorbeiziehen, strömt in unsere Augen Sonnenlicht, in unsere Kehlen Capri-Sun und in unsere Ohren Musik – abgespielt natürlich über Spotify. Kaum ein Kilometer unseres Roadtrips wird nicht von Spotify-Playlists begleitet.
September 2023:
Eine Musikrichtung, in die mich der grüne Streamingriese zunehmend einführt, ist deutschsprachige Punkmusik. Vor meiner Existenz als Spotify-User hatte ich zwar bereits einige Deutschpunkbands gekannt und gemocht, jedoch finde ich durch Spotify tiefer in das Genre und in die Varietät an verschiedenen Bands und Artists, die es zu bieten hat. In diesem Fall muss ich dem Streamingdienst eine seiner meiner Ansicht nach größten Qualitäten zugestehen: Das Entdecken neuer Musik war nie so zugänglich und komfortabel. Besonders durch die „Mix der Woche“-Playlist entdecke ich wöchentlich neue Musik, die sich größtenteils gut in meinen persönlichen Musikgeschmack einfügt. In gewisser Weise hebt Spotify damit die Exklusivität der Nische auf, in der sich bestimmte Musik vor Zeiten des Streamingdienstes abgespielt hat. So sehr sich dieses turbokapitalistische Vermarktungskonzept auch mit den Kerngedanken des Punks beißen mag, genieße ich die Freiheit, jede Band jederzeit jeden Orts hören zu können doch zu sehr, um mich davon lossagen zu können. Gerade in Richtung des Deutschpunks entdecke ich in der zweiten Hälfte des Jahres Bands wie AUGN, Burnout OstWest oder Knöppel, die ich ohne Zutun des Streamingdienstes wohl nie kennengelernt hätte.
Oktober 2023:
Zunehmend finde ich Gefallen an den sozialen Aspekten der App. Ich überarbeite mein Profil, gebe mir einen pointierten Usernamen mit passendem Profilbild, erstelle zahlreiche Playlists, folge den Accounts meiner Freund*innen, und erkunde deren Profile und Playlists. Auch erstelle ich mit einigen Freunden gemeinsame Playlists, in denen Spotify versucht, unsere doch sehr unterschiedliche Musikgeschmäcker in einem gemeinsamen Mix zu vereinen, was nur bedingt funktioniert. Dennoch: Die soziale Interaktion mit Freund*innen macht Spotify zu einem interessanten Ort des Austausches mit und über Musik.
November 2023:
Es ist wrapped-Zeit! Nervosität durchfährt meinen Körper wie ein plötzlicher Schauer flüssigen Feuers, als ich das kleine Icon auf meiner Spotify-Startseite entdecke. Es ist soweit! Endlich. Ich klicke. Mittels bunter Grafiken und Animationen präsentiert mir Spotify eine Zusammenfassung meines Hörverhaltens während des vergangenen Jahres. Über 49.000 Minuten soll ich gehört haben. Nicht schlecht. 2.804 verschiedene Songs habe ich wohl gehört. Doch so viele. 1.609 verschiedene Künstler*innen. Mann, was bin ich divers. Am meisten The Kinks. Da bin ich unter den Top 0,1% der Hörer*innen. Ich freue mich über diese Statistiken, während sie mich tief im Inneren verstören und abschrecken. Und dennoch sehe ich mir meinen Jahresrückblick wieder und wieder an. Spotify präsentiert mir die Stadt, in der Musik, wie ich sie mag, am meisten gehört wird, die Monate, in denen ich meine Lieblingskünstler*innen jeweils am meisten gehört habe, meine Spotify-Personality, meine meistgehörten Podcasts, meine meistgehörten Songs in öffentlichen Verkehrsmitteln, welche Künstler*innen am meisten auf der Toilette gehört habe, meinen aktuellen Wohnort, die vollständigen Namen meiner Mitbewohner*innen, mein Körpergewicht, sowie meinen aktuellen Kontostand. Da diese Informationen von höchster Bedeutung für die Allgemeinheit sind und diese den Winter wohl kaum ohne eine Veröffentlichung jener Daten überstehen würde, beschließe ich, mein wrapped in meiner Instagram-Story zu posten. Spotify hat mich einmal mehr vollends im Griff. Ich blicke auf mein Handy. Deine Top-Songs 2023. Deine absoluten Lieblingssongs des Jahres, alle in einer Playlist.
Ich liebe es. Und hasse mich dafür.
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