Ich habe ein grottenschlechtes Personengedächtnis. Das sage ich wahrscheinlich mindestens jeder zweiten Person, die ich kennenlerne und meine es auch genau so. Die Chancen stehen gut, dass ich mich bei unserem nächsten Aufeinandertreffen nicht an deren Namen erinnern kann, oder ich sie vielleicht mit jemandem verwechseln werde, der ihnen mit ganz viel Fantasie und zwei zugekniffenen Augen ein wenig ähnlich sieht. Namen vergesse ich für gewöhnlich binnen Sekunden, wenn ich mich nicht aktiv bemühe sie mir zu merken und wenn ich ehrlich bin, steht es um Gesichter auch nicht viel besser. Dieser Umstand macht viele Dinge nicht gerade leichter. Hierzu zählt leider auch das Schauen von Filmen.
Große Casts, komplexe Figurenkonstellationen, Doppelgänger*innen und andere Verwirrspiele, das sind Eigenschaften, die mir den Genuss eines Films immens erschweren. Vor einigen Tagen führte mir Jogo de Cena, ein experimenteller Dokumentarfilm aus Brasilien, mein Problem auf spannende Weise einmal mehr vor Augen. Dabei mutete dessen Prämisse eigentlich recht simpel an. Frauen werden dazu eingeladen, Ausschnitte aus ihrem Leben zu erzählen. Diese Erzählungen werden von Schauspielerinnen nachgestellt.
Wir befinden uns auf der Bühne eines Theaters und blicken auf leere Sitzränge voller roter Sitze. Vor uns sitzt eine Frau auf einem Stuhl. Sie erzählt von ihren Versuchen, eine Anstellung als Schauspielerin an einem Theater zu erlangen. So weit, so gewöhnlich. Eine zweite Szene beginnt und eine neue Frau nimmt auf dem Stuhl Platz. Sie beginnt ihre Geschichte zu erzählen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, worum es im Detail ging. Irgendetwas wirkt komisch auf mich. Obwohl die Schnitte für ein Interview nicht untypisch gesetzt sind, stechen sie mir sehr stark ins Auge. Das Aussehen der Frau scheint sich leicht zu verändern, aber ich kann keine direkten Unterschiede feststellen. Vielleicht ist die Kamera ja einfach ein wenig komisch eingestellt. Keine sonderlich plausible Erklärung, aber warten wir mal ab.
Es stellt sich heraus, dass die Frau von zwei Frauen dargestellt wurde. Von einer Frau, die tatsächlich einen Schwank aus ihrem Leben erzählt, und einer Frau, die diesen Monolog nachstellt. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass sie sich wirklich ähnlich sahen. Nun ist der Samen der Unsicherheit in mir gesät. Wurde die erste Frau auch von mehreren Personen dargestellt? Ich habe nicht nachgeschaut und werde wohl mit der Ungewissheit leben müssen. Während ich die soeben erlangte Erkenntnis noch verarbeite, spricht die Darstellerin mit dem Regisseur über ihren Zugang zu Schauspiel. Im Speziellen über ihre Darstellung von Trauer und Weinen. Ein authentisches Weinen, so sagt sie, ist ein Weinen, das zurückgehalten werden möchte.
Zwar wusste ich, dass der Film Reenactments beinhaltet, jedoch habe ich mir diese deutlich szenischer vorgestellt. In meiner Erwartung wurde das Erzählte nachgestellt, nicht das Erzählen. Frau Nummer drei betritt die Bühne. Mit Argusaugen versuche ich, mir Einzelheiten ihres Gesichts einzuprägen. Ohrringe, Mundwinkel, die Art, wie sie blinzelt und ihr wildes Gestikulieren werden plötzlich zum Mittelpunkt des Films und verdrängen das Primat der Talking-Heads-Doku. Jede Kopfbewegung, jedes Schmatzen wird mit dem Stempel eines potentiellen schauspielerischen Gestus versehen. Am Ende ihrer Erzählung bin ich mir eigentlich sicher, dass der gesamte Text von einer Person vorgetragen wurde. Ein Restzweifel bleibt jedoch bestehen. Und überhaupt: Wer sagt, dass es sich nicht bei ihrer gesamten Erzählung um ein Schauspiel handelt?
Eine neue Frau beginnt von sich zu erzählen. Nein, zwei Frauen beginnen, von einer der beiden zu erzählen. Das Duo könnte unterschiedlicher nicht aussehen, weshalb dieser Umstand selbst mir sofort ins Auge fällt. Aber wer der beiden hat das Vorgetragene tatsächlich erlebt? Die wilde Indiziensuche beginnt. Gerötete Augen, Unsicherheiten, Altersunterschiede. Ein In-Sich-Gekehrt-Sein, das mit einem offeneren Charakter kontrastiert wird. Und dann wäre da noch das Weinen. Traue ich den vorab erhaltenen Hinweisen? Im Monolog geht es übrigens unter anderem um deren Beziehung zu Findet Nemo. Bin ich in diesem Szenario Dori, der vergessliche Doktorfisch? Wie dem auch sei, ich habe eine Vermutung, wer der Imitator in der Runde sein könnte und liege zu meiner Überraschung sogar richtig. Nun, die Chancen hierfür lagen bei 50%, aber man soll ja auch die kleinen Erfolge feiern.
Denkt man kurz über den Film nach, verliert diese Frage natürlich schnell an Relevanz. Das Ziel ist nicht die klare Unterscheidung zwischen Realität und dem Versuch einer Nachstellung ebendieser, sondern das Hervorheben der verschwommenen Grenze zwischen diesen Polen. Wer erzählt, begibt sich, bewusst oder unbewusst, auf eine Bühne, versieht das Gesagte mit Mimik und Gestik, betont einzelne Punkte und Wörter, schmückt Dinge aus und lässt vielleicht auch das ein oder andere Detail aus. Die andere Seite der Medaille dieser Performanz des Alltags ist der Realitätsbezug des Schauspiels. Nicht ohne Grund ist eine der später auftretenden Frauen Rapperin. Rap, die [vermeintlich] einzige Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss. Authentisch ist und bleibt das, was für authentisch gehalten wird, eine Ästhetik.
Der Film ist in seiner Herangehensweise keineswegs zynisch, lässt nicht an den Anekdoten der Frauen zweifeln, sondern schult das Auge für große und kleine Ausdrücke von Freude, Verzweiflung und Schmerz. Nicht alle Frauen, die im Rahmen des Films sprechen, haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Aber jede von ihnen hätte sie potentiell machen können. Die Darstellung der Schauspielerinnen, die zuteil von den Bezugspunkten in ihrem Leben berichten, zeugt von Empathie, Solidarität, sowie der Fähigkeit, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen. Ob Mutter oder nicht, verheiratet oder single, die geschilderten Probleme sind nicht rein individueller Natur und dementsprechend sollte man sie nicht ausschließlich an einzelne Personen gebunden betrachten. Dieser systemische Blick wird durch Filme wie diesen geschärft.
Schlussendlich bleibt mir nur eine Sache zu sagen: Euren Namen werde ich vielleicht vergessen, diesen Film aber wahrscheinlich nicht. Sorry, ist nichts Persönliches.
Noch keine Kommentare