Middle-earth: Shadow of Mordor hat mich tiefgreifend überrascht. Dass Umsetzungen erfolgreicher Lizenzvorbilder einen schweren Stand haben, ist keine Seltenheit. Nicht verwundernswert, wenn ein Großteil des Budgets allein für die Rechte draufgeht und Rücksicht auf beengenden Kanon genommen werden muss. Hinzu kommt, dass die Previews nicht gerade Begeisterung auslösten, die brauntönige Farbgebung nur die allseits beliebte „Alles muss jetzt düster sein“-Stimmung zu befriedigen schien, und die überbeanspruchte Third-Person-Open-World-Action-Adventure-RPG-Mechanik so sehr nach Assassin’s-Creed-Klon beziehungsweise Warner Bros.‘ hausinternem Batman: Arkham City schreit, dass eigentlich nur noch eine Enttäuschung bevorstehen konnte. Vollkommen unerwartet gelingt es jedoch Entwickler Monolith Productions, der mit F.E.A.R. im Jahr 2005 bereits einen der besten Grusel-Schocker des FPS-Genres hervorbrachte, mit seinem zeitlich zwischen Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe angesiedelten Abenteuer eine eigenständige Geschichte zu erzählen, die thematisch außergewöhnlich, kontrovers und anspruchsvoll ist. Interaktiver Terrorismus, Existenzfragen und Religionskritik sieht man nicht alle Tage in einem millionenteuren Spieleprojekt mit Franchise-Potenzial.
Die Geschichte beginnt unbeholfen. Unsere Spielfigur Talion wird von go-to Synchronarbeiter Troy Baker gesprochen (Infamous Second Son, Bioshock Infinite, The Last of Us, …), er ist männlich, weiß, bärtig, und grimmig. Wir wissen nichts über ihn, aber haben ihn schon tausendmal gesehen. Er steht trauernd über den Leichen von Frau und Kind, zwei Charaktere, von denen wir als Zuschauer ebenfalls nichts wissen und auch nichts erfahren werden. Umhüllt von einer Schattenwelt erinnert er sich an die Momente vor und während des schicksalsträchtigen Ork-Überfalls zurück; der Spieler lernt dabei die Grundlagen des Kampfsystems kennen. Die parallel geschnittenen Actionszenen führen zu unfreiwillig komischen Überleitungen. So verwandelt sich sein Sohn, mit dem wir eben noch trainieren, plötzlich in einen Uruk. Und das Schleichsystem zum Gegnermeucheln wird uns mit dem Tutorial-Tipp: „While in stealth, press X to kiss wife“ vorgeführt. Das ist nicht nur albern, sondern auch spiel-moralisch recht fragwürdig. Letztendlich scheitert die Festungsverteidigung und Talion wird von der Black Hand Saurons mit einem Fluch belegt, der ihm den Rachegeist Celebrimbor aufzwingt, und somit in der Welt der Lebenden gefangen hält. Weil die Menschen Mittelerdes wie Christen an eine gemeinsame Existenz nach dem Tod glauben, ist es fortan des Helden Ziel zu sterben, um wieder mit Frau und Kind vereint zu sein. Die Krux dabei? Celebrimbor belebt ihn so oft wieder, bis er sich an der Black Hand rächen konnte.
Mag das Ganze auch hölzern inszeniert sein, kann man der Prämisse dennoch eine gewisse Genialität nicht absprechen. Videospiele haben seit Erfindung des Speichersystems viel zu selten versucht, ihre Trial-&-Error-Mechaniken auch erzählerisch nachvollziehbar einzubauen. Wenn sie sich doch die Mühe machen, wie beispielsweise Dark Souls, Bioshock und die Assassin’s-Creed-Reihe, zieht einen das Ergebnis gleich viel intensiver in die Spielwelt. Das Neuladen eines Checkpoints ist dadurch nicht mehr eine unlogische Unterbrechung, sondern Teil der Geschichte des auferstehenden Helden. Umso besser ist es noch, wenn dies auch thematisch relevant ist. Wie im Videospiel-inspirierten Action-Film Edge of Tomorrow eröffnen sich auch hier existenzialistische Sinnfragen, wieso man überhaupt noch macht, was man gerade macht, wenn sich jegliches Scheitern sowieso zurücksetzen lässt und kein Ende in Sicht ist. Weil Shadow of Mordor im Gegensatz zu Assassin’s Creed dafür keine nervig-langatmige Metahandlung benötigt, sondern das Ganze innerhalb seiner 10-minütigen Eröffnungssequenz plausibel anreißt, grenzt das erzählerisch schon an eine Meisterleistung. Insofern ist es auch beinahe verkraftbar, dass das spieltypische Klischee der ermordeten Partnerin mal wieder den eigentlichen Racheplot initiiert.
One Does Not Simply
Da der Verlust seiner Familie scheinbar tief sitzt, wird Talion von einer ernsthaften Todessehnsucht angetrieben. Leider wäre es mit dem Hören von My Chemical Romance und Rasierklingen-Experimenten nicht getan, und so gilt es, durch Vergeltung an der Black Hand Erlösung zu finden. Jedoch ist auch hier gewiss: „One Does Not Simply Walk into Mordor“. Folglich muss der Verfluchte erst dutzende orkische Anführer unschädlich machen, bevor er eine Chance gegen seinen Peiniger hat. Wegziehen, sich im Tänzelnden Pony besaufen und mit der gewonnenen Unsterblichkeit ein neues Leben anzufangen, sind für ihn keine Option. Das ist für Außenstehende nicht ganz schlüssig, was vor allem daran liegt, dass man als neutraler Beobachter absolut keine Bindung zu Talions Geliebten hat. Wenn die einzige Interaktion aus einem Kuss in Form eines Schleichangriffs besteht, kann die Tragik der Trennung einfach nicht zur Geltung kommen. Durch Identifikation mit der Hauptfigur punktet die Geschichte aufgrund mangelnder Empathie also nicht. Glücklicherweise ist das Abmurksen von Häuptlingen spielerisch interessanter als das Stemmen von Metkrügen, weshalb das Setting in Mordor schließlich doch die bessere Wahl bleibt.
Das Ausschalten der Ork-Captains gestaltet sich überraschend vielseitig. Schon seit einiger Zeit erfreut sich unter Indie-Entwicklern das prozedurale Generieren von Spielinhalten großer Beliebtheit. Dabei erstellt das Spiel auf festgelegten Regeln basierend selbstständig neue Aufgaben, Orte oder Charaktere für den Spieler. Monolith Productions hebt die Methode nun auf Blockbuster-Niveau und nutzt sie, um eine nahezu unbegrenzte Zahl an feindlichen Anführern zu erstellen, deren Charakteristiken sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzen. Dies garantiert jedem Spieler einzigartige, weil durch Zufallsfaktoren beeinflusste, Konfrontationen. In einem Sklavenlager traf ich beispielsweise auf Horhog den Poeten und beim Versuch, seine Gefangenen freizulassen, stellte er sich mir mit der äußerst lyrischen Weisheit „I am the Uruk bard! / A worthy foe is hard… / to find!“ gegenüber. Name, Titel und Spruch sowie Stärken und Schwächen werden beliebig kombiniert. Weil ich zuvor von einem niederen Ork-Kämpfer erfahren hatte, dass sich der Poet vor Caragors (monströsen Riesenhunden) fürchtet, befreite ich also eines der Biester aus einem nebenstehenden Käfig und schlug den feigen Dichter ohne großen Aufwand in die Flucht. Da einem das Spiel keine bestimmte Herangehensweise vorschreibt, hätte die Situation auch ganz anders ausgehen können. Ohne die hilfreiche Information hätte ich vielleicht versucht, ihn im Schwertduell zu erledigen, nur um dann schmerzlich feststellen zu müssen, dass er dank seines Kampfgeschickes im Nahkampf unverwundbar ist. Wahrscheinlich wäre dann sein Schwert in meiner Magengrube die tödliche Folge gewesen. Wobei tödlich ja dann auch nicht stimmt, da Talion stets wiederbelebt wird.
Bis Talion allerdings wieder auf den Beinen steht, vergeht Zeit und innerhalb dieser spräche sich herum, dass Horhog einen Sieg gegen mich errungen habe. Das wiederum verschafft ihm Ruhm und Ehre, wodurch sein Machteinfluss steigt, und er im besten beziehungsweise schlimmsten Fall zum Kriegshäuptling befördert wird (woraufhin umstehende Orks seinen Namen im Chor brüllen, was definitiv für Gänsehaut sorgt). Die orkische Herrschaftsordnung ist also eine meritokratische, in der jedes Glied – unabhängig von Klasse, Rasse und Status – dieselben Karrierechancen hat. Das macht sie fast schon sympathisch! Und tatsächlich sind die Gegner keine austauschbaren Sparringspartner, sondern ernst zu nehmende Kontrahenten, die sich mitunter ins Gedächtnis brennen. Wer einmal gegen einen Ork verliert, hat fortan einen Nemesis, der dem Spieler fieserweise sogar in kniffligen Story-Missionen auflauern kann.
Das Empathie-Problem
Die Orks in Shadow of Mordor finde ich wesentlich interessanter als gedankenfreie Zombies, die man in anderen Spielen gewissenlos mit der gleichen Brutalität abmetzelt. Das ist erzählerisch allerdings ein wenig prekär. Nach anderthalb Spielstunden weiß ich nicht einmal mehr, wie Talions Sohn und Frau aussahen, kann aber problemlos die Gesichtszüge von mindestens drei Uruk-hai beschreiben und ihre Schwachpunkte aufzählen. Hinzu kommt noch, dass man im ersten Kampagnen-Drittel ein Bündnis mit einem tollpatschigen Ork-Whistleblower eingeht, der Informationen über die Hierarchie preisgibt, den man mehrfach aus der Bredouille rettet, dessen Pannen durch looney-tunige Musikuntermalung ironisch kommentiert werden, und dessen Twitter-Account vermutlich #NotAllOrcs propagieren würde. Wieso kämpfe ich also gegen jemanden, den ich besser kenne als diejenigen, für die ich kämpfe? Das Ganze wird umso absurder, wenn man kurz darüber reflektiert, was genau man eigentlich gerade tut. Unter Druck geben Orks Informationen über andere Preis, intrigieren gegen Artgenossen und schließen sich Talion an. Wie erzeugt man diesen Druck? Entweder exploitiert man ihre tiefsten Ängste, z.B. vor Feuer durch Brandwunden, oder man drischt sie so lange zu Brei, bis ein grünes Symbol über ihrem Kopf erscheint, das einen gebrochenen Willen indiziert. Shadow of Mordors „LithTech“-Engine unterstützt eine wunderhübsche Wasser-und Textilienphysik. Wäre Waterboarding nicht so zeitaufwendig, es wäre Talions Lieblingsbeschäftigung.
Das Argument, es seien ja bloß Orks, zieht nicht wirklich, weil es eher darum geht, zu welchen Taten man selbst in der Lage wäre. Orks sind zwar keine Menschen, aber sie haben auf jeden Fall menschliche Eigenschaften und von diesen besitzen sie aus narrativer Sicht sogar mehr als Talions Familie. Gewissermaßen stellt sich dieselbe Frage wie in Mass Effect, ob sich der Genozid einer Rasse rechtfertigen ließe, wenn deren Intentionen größtenteils kriegerischer und expansiver Natur sind. Tolkien hatte dazu Folgendes zu sagen:
That is, that though of necessity, being the fingers of the hand of Morgoth, they must be fought with the utmost severity, they must not be dealt with in their own terms of cruelty and treachery. Captives must not be tormented, not even to discover information for the defence of the homes of Elves and Men. If any Orcs surrendered and asked for mercy, they must be granted it, even at a cost.
Morgoth’s Ring, The History of Middle-earth 10, Seite 419
Es lässt sich nicht abstreiten, dass Shadow of Mordor zum Teil ein Folter-Simulator ist, aus dem das Spiel einen Großteil seines Reizes zieht. Ist das nun schlecht? Ich finde nicht. Einer der besten Filme des letzten Jahres ist meiner Meinung nach Zero Dark Thirty, einer der besten dieses Jahres ist The Wolf of Wall Street. Beide präsentieren Protagonisten, die sich zweifelhafter Methoden bedienen, um ihre Ziele zu erreichen, und erregen durch diese Erzählungen Aufmerksamkeit zu schwerwiegenden Problemen in unserer Gesellschaft. Trotzdem sah sich vor allem Kathryn Bigelow mit ihren Doku-Thriller über die Jagd nach Osama Bin Laden den Vorwürfen ausgesetzt, Folter zu befürworten, woraufhin sie schließlich mit einem Essay in der L.A. Times antwortete. Dessen zitierwürdigster Satz: „Those of us who work in the arts know that depiction is not endorsement.” ist so essenziell, dass er spätestens jedem Oberstufenschüler bei der Interpretation von Werken eingehämmert werden sollte. Nur weil ein künstlerisches Werk etwas darstellt, kann man nicht automatisch daraus schließen, dass die Schöpfer das Gezeigte auch befürworten. Wäre dies nicht wahr, wäre Spielberg mit Schindlers Liste einer der größten Kulturverbrecher unserer Zeit.
Warten auf Frodo
Deswegen ist es unabdingbar, Shadow of Mordor in seinem Gesamtkontext zu sehen. Ja, das Spiel ist unfassbar brutal und abgetrennte Köpfe fliegen im Minutentakt. Ja, man foltert, um kurzfristige Ziele zu erreichen. Aber was sind die tatsächlichen Folgen? Im Mittelerde-Universum sind Orks eine Rasse, die extrem schnell gezüchtet werden kann. Im Spiel wird es dadurch deutlich, dass offene Feldherren-Ränge nach kurzer Zeit neu besetzt werden. Es ist unmöglich, die Reproduktion der Kriegstreiber zu stoppen, was die Folter letztendlich genauso sinnlos macht wie wenn Orks das Stehaufmännchen Talion töten. Man wird zwar rollenspieltypisch für erledigte Orks belohnt, wodurch sich Talion verbessert und stärkere Fähigkeiten freischaltet. Das hat aber auch nur den Effekt, Orks schneller und effektiver zu töten. Es führt nie dazu, Talions existenzielles, langfristiges Problem zu lösen. Sowohl die Spielmechanik als auch das Finale, das einige Spieletester bereits als enttäuschend abgetan haben, arbeiten auf die große Epiphanie hin, dass alles bisher Erreichte sinnlos war. Folter führte nicht zum endgültigen Ziel. Wer Der Herr der Ringe gesehen / gelesen hat, der weiß, was stattdessen zum Ziel führt.
Fazit: Shadow of Mordor ist ein Spiel, das wie sein Held ein Zwischendasein erfüllt. Es existiert zwischen der Hobbit-Geschichte und Der Herr der Ringe genau wie Talion zwischen Leben und Tod existiert. Es kann kein kathartisches Ende geben, die Handlung bewegt sich im Kreis, weil die Vorlage Saurons vorzeitigen Tod verbietet und mit ihm die menschliche Verderbnis besteht. Entwickler Monolith Productions hat die Chance ergriffen, ebendieses Dilemma zu seinem Sujet zu machen, und somit eines der denkwürdigsten Spielerlebnisse geschaffen.
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