Die zentrale Geschichte, um die es im Folgenden geht, dreht sich um Martin Luther King Jr. Denn dieser stellte sich 1964, als die USA in den Vietnamkrieg eintraten, gegen dieses Kriegsunterfangen, das zu dieser Zeit noch eine breite Unterstützung in der Gesellschaft genoss. Krieg, so Kings Standpunkt, ist falsch. Aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung wurde er angefleht, seinen Widerstand gegen den Krieg nicht öffentlich zum Ausdruck zu bringen, um der eigenen Sache nicht zu schaden. Diesen kritischen Stimmen verwehrte sich King und warf ihnen entgegen, dass sie nicht verstanden hätten, worum es ihm auch bei seinem Kampf gegen die Segregation in den Vereinigten Staaten ginge.

Um Kings eigentliches Ziel dreht sich das 2022 erschienene Buch Radikaler Universalismus – Jenseits von Identität von Omri Boehm. Er greift die Geschichte Kings und ihn als Figur immer wieder auf, um einer schwierigen Frage nachzugehen: Kann man Aussagen treffen, die für alle Menschen gültig sind? Und falls ja, welche?

Im Folgenden lege ich die zentralen Argumente des Buchs dar und komme auch auf ein Interview zu sprechen, das Boehm zum Erscheinen seines Werks im Podcast Jung & Naiv gegeben hat. Denn die Frage, ob ich die Lektüre weiterempfehlen würde, ist komplizierter, als ich zunächst angenommen hatte. Doch darauf komme ich am Ende zurück, wenn wir alle wissen, worum es hier geht.

Der radikale Universalismus

Omri Boehm selbst versteht dieses Buch als einen Zwischenruf in moderne Debatten rund um Identität, die ihm aus den Fugen geraten zu sein scheinen – so legt er es in der Einleitung und in dem Interview bei Jung & Naiv dar. Was Boehm beobachtet, ist eine Abkehr von dem, was er einen radikalen Universalismus nennt. Er setzt diese Zuspitzung bewusst, denn natürlich ist der Universalismus an sich bereits radikal: er gilt entweder für alle überall oder nicht. Insofern kann er nicht radikalisiert werden, doch darum geht es Boehm nicht. Der Titel ist eine Provokation, denn wogegen er sich wendet, ist ein falsches Verständnis von dem, was Universalismus eigentlich ist. Um diesen eigentlichen Kern herauszuarbeiten, zieht er drei historische Dokumente heran: Den Aufsatz Was ist Aufklärung? von Immanuel Kant, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die biblische Geschichte der Bindung Isaaks (die ihn nicht als religiöses, sondern als Dokument über das Denken der Zeit ihrer Entstehung interessiert).

Ein radikaler, richtig verstandener Universalismus, so argumentiert Boehm mit Bezug auf Kant, setzt nicht Nation, Kultur, Geschlecht, Hautfarbe oder sonstige Merkmale eines Menschen als Ausgangspunkt, sondern das Menschsein selbst. Was allen Menschen gemein ist, ist die Freiheit. Uns allen präsentiert sich die Welt auf unterschiedliche Weise, aber wir alle haben, im Unterschied zu Tieren, die auf den reinen Instinkt zurückgeworfen sind, die Freiheit, zu entscheiden, wie wir uns zur Welt verhalten wollen, auch entgegen unserer Bedürfnisse und Leidenschaften. Damit rückt die Moral in den Mittelpunkt. Wenn das, was uns gemein ist, die Freiheit zum Handeln ist, dann ist die allen Menschen gemeinsame Frage die danach, wie wir handeln sollten. So wird die Freiheit zur Pflicht, nämlich zur Pflicht, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dies ist die erste universalistische Aussage: Menschen sind in erster Linie moralische Wesen, die durch Freiheit als Pflicht bestimmt werden.

Die zweite universalistische Aussage fragt nach dem Unterschied zwischen Preis und Würde. Immer noch mit Kant argumentiert Boehm, dass diejenigen Dinge einen Preis haben, die gleichwertig gegeneinander getauscht werden können. Was einzigartig ist, und deshalb kein Äquivalent im Tausch findet, hat eine Würde. Da alle Menschen die Welt anders wahrnehmen und ihre Perspektiven nicht gleichwertig getauscht werden können, haben Menschen immer eine Würde, niemals einen Preis. Es ist dieser Gedanke, auf dem u.a. der Begriff der Menschenwürde in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes fundiert ist.

Aus diesen beiden Aussagen leitet sich die zentrale Forderung des Universalismus ab: Menschen dürfen niemals als Mittel zu einem wie auch immer gearteten Zweck gebraucht werden, sie müssen immer der Zweck selbst sein. Handlungen müssen also immer auf das Wohl von Menschen abzielen, was Kant in seinem berühmten kategorischen Imperativ festmacht: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen könntest, dass sie ein allgemeines Gesetz bilde.“ Dieser Satz folgt zwingend aus den beiden universalistischen Aussagen und ist innerhalb dieser uneingeschränkt gültig. Er fordert ein, dass wir uns bei jeder Handlung unseres eigenen Verstandes bedienen, um zu überprüfen, ob diese wirklich zum Wohle der Menschheit passiert und sie im Zweifelsfall zu unterlassen, selbst wenn dies unserem eigenen Begehren oder unserem Wohlergehen entgegen läuft. Dieses Gesetz, wie Boehm es nennt, steht über den Menschen, bleibt jedoch fest in deren Hand: „Weil Menschen diesem Gesetz verpflichtet sind, hat kein Mensch je das Recht, zu gehorchen.“ Man merkt, der radikale Universalismus steckt voller radikaler Forderungen.

Dennoch finden sich immer wieder in der Geschichte der Menschheit Momente dieses Denkens. Als einen frühen (sicherlich nicht den ersten) führt Boehm hier die biblische Geschichte der Bindung Isaaks an, in der Abraham sich weigert, seinen eigenen Sohn zu opfern, obwohl Gott dies von ihm verlangt, indem er sich auf das von Gott geschaffene Gesetz beruft, das noch über diesem selbst steht. Ein zweiter Moment ist laut Boehm die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. In einem längeren literaturhistorischen Exkurs geht er dem groß geschriebenen „MEN“ aus dem Satz „All MEN are created equal“ („MEN“ ist hier auch im Original nur in Großbuchstaben geschrieben, was eine zentrale Bedeutung hat) nach, um zu zeigen, dass sich dies von den Autoren tatsächlich auf alle Menschen bezog, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft. Insofern versteht Boehm die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als einen Versuch, das über allen Menschen stehende moralische Gesetz in ein weltliches zu gießen und zeichnet nach, wie dies in der Umsetzung daran scheiterte, dass die amerikanische Gesellschaft und ihre Machthaber doch wieder von diesem Kurs abkamen.

Und schließlich bezieht Boehm sich immer wieder, wie oben bereits erwähnt, auf Martin Luther King Jr. Denn King kämpfte – so geht es aus seinen eigenen Reden hervor und dies argumentierte er auch gegen die kritischen Stimmen aus der Bürgerrechtsbewegung – um mehr als die Rechte der Schwarzen in Amerika. Er kämpfte für eine größere Gerechtigkeit, für die Gerechtigkeit an sich, für das höhere Prinzip, auf das auch Abraham sich Gott gegenüber berief. Diese universalistische Argumentation erlaubte es ihm, sich über die menschengemachten Gesetze der Segregation hinweg zu setzen, die dem höheren Gesetz der universellen Moral nach Unrecht waren. Ähnliche Argumentationen finden sich heute auch bei Klimabewegungen, die Gesetze, welche zu großem CO2-Ausstoß und damit einem drohenden Untergang der Menschheit führen, als Unrecht deklarieren und sich teilweise darüber hinweg setzen.

Das also ist das Plädoyer Boehms für den radikalen (oder besser: radikal, bzw. richtig verstandenen) Universalismus. Das Argument ist nicht neu, hat jedoch wenig von seiner Schlagkraft verloren. Es dient als Begründung für allgemeine und unveräußerliche Menschenrechte und strebt eine Welt der Gerechtigkeit für alle Menschen an. Sein Reiz liegt in der Absolutheit seiner Ansprüche, auch wenn es wohl unmöglich sein wird, diese jemals zu erfüllen. Doch der Sinn davon, nach ihnen zu streben, kann schwer abgestritten werden.

Würde das Buch hier aufhören und nur dieses Argument vortragen, würde es mir sehr leicht fallen, eine Rezension zu schreiben, da ich ziemlich uneingeschränkt zustimmen und sagen könnte: Das Buch ist gut, lest es! Doch es gibt noch einen anderen Strang, den Boehm verfolgt, der untrennbar zum Universalismus dazugehört. Er stellt die berechtigte Frage: Wenn es darum geht, Aussagen für alle Menschen zu treffen, was sind dann eigentlich Menschen? Und hier wird es kompliziert.

Was sind Menschen?

In dem bereits erwähnten Interview bei Jung & Naiv fragt Thilo Jung überrascht nach, als Boehm sagt, er glaube daran, dass alle Menschen gleich und frei geboren werden. Jung ist deshalb überrascht, da er Boehms Argumentation so verstanden hat, dass es keine Glaubensfrage ist, sondern eine Gewissheit. Boehm überlegt kurz und formuliert dann neu. Er sagt, er weiß, dass alle Menschen gleich und frei geboren werden. Aber er kann nicht beweisen, dass es Menschen gibt.

Denn Menschen sind, in der Konzeption Boehms, Wesen, welche die Freiheit haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Sie können auf die Welt auch auf eine Weise reagieren, welche eigene Bedürfnisse und Begierden hintenan stellt, um das Richtige zu tun. Sind wir dies nicht, sagt Boehm im Interview, sind wir wohl nur „wise animals“. Dieses Menschenbild ist nahe an dem von Kant und stark von diesem beeinflusst, weshalb es dieselben Stärken und Schwächen aufweist. Zu den Stärken gehört das im vorigen Abschnitt dargelegte Argument des radikalen Universalismus, denn ohne Menschen als inhärent moralische Wesen zu bestimmen, lassen sich auch keine allgemeinen moralischen Aussagen für ihr Handeln treffen.

Doch es gibt auch eine klare Schwäche. Denn Kant nimmt hier eine für seine Zwecke notwendige Reduktion der Menschen vor, die er auch als solche markiert. Er will Menschen nicht als emotionale, soziale oder kulturelle Wesen betrachten, sondern blendet alles aus, bis auf den Verstand. Dieser trifft schließlich moralische Entscheidungen, oder sollte es Kant nach zumindest tun. In der Realität sind Menschen zwar auch Wesen des Verstandes, aber eben nicht nur. Viele andere Faktoren spielen eine Rolle, wenn wir moralische Entscheidungen treffen. Emotionen können zu moralisch übermäßig gutem wie schlechtem Verhalten führen. Soziale und kulturelle Prägungen haben Einfluss darauf, welche Werte für ein Individuum wichtiger sind als andere. Auch die ökonomische Situation, in der eine Person sich befindet, oder der Zugang zu Bildung, setzen realweltliche Rahmen dafür, welche Handlungen verfügbar oder denkbar sind. Nicht zu vergessen die Eigendynamik einer Situation.

Die Reduktion der Menschen auf den Verstand bei Kant zu kritisieren wäre zu einfach, denn nicht nur ist er sich dieser bewusst, er setzt sie gezielt ein, um am Ende bei kategorischen moralischen Aussagen zu landen. Boehm setzt diese Konzeption des Menschen als Verstandeswesen absolut und macht sie gar zur Bedingung des Menschseins. Denn er sieht sich nicht an, was Menschen aus welchen Gründen tun, um dann basierend auf diesen Beobachtungen zu sagen „das sind Menschen“. Vielmehr erklärt er eine idealisierte Vorstellung von Menschen als reine Wesen des Verstandes, die sich der Freiheit als Pflicht immer bewusst sind und nach den Prinzipien der universellen Moral handeln zum eigentlichen Menschsein. Sollten wir an diesen unerfüllbaren Ansprüchen scheitern, sind wir nicht mehr Menschen, sondern „wise animals“. Dabei scheitern, das zeigt Boehm selbst, alle daran. Kant mit seiner Rassenlehre und seinem Antisemitismus, King bei seinem Umgang mit Frauen, wir alle Tag für Tag, wenn wir uns in die Widersprüche verheddern, die zum Menschsein dazu gehören. Ich sympathisiere sehr mit seinem Aufruf dazu, von Menschen keine Perfektion zu erwarten und sich mit ihrer vollen Komplexität auseinanderzusetzen, anstatt sie auf eine Aussage oder Tat zu reduzieren. Deshalb möchte ich diese Kritik auch nicht falsch verstanden wissen: An keiner Stelle spricht Boehm Einzelnen aufgrund ihres Scheiterns an höheren moralischen Vorstellungen oder einer idealisierten Version des Menschseins dieses Menschsein ab. Sein Denken geht, das zeigen sowohl das Buch als auch das Interview, genau in die andere Richtung. Er möchte möglichst viele Individuen in die Gruppe „Mensch“ mit aufnehmen und wehrt sich vehement gegen jeden Ausschluss von Personen aus dieser Gruppe aufgrund von irgendwie gearteten Identitätsmerkmalen.

Auf der Ebene der Menschheit an sich scheint er mir jedoch selbst in diese Falle zu tappen, da er den Mensch als Verstandeswesen zu einer eigenen ideologisch aufgeladenen Identitätskategorie erhebt. Entweder wir zeigen, dass wir Wesen des Verstands sind, die jederzeit das moralisch Richtige finden und über unsere eigenen Leidenschaften und Bedürfnisse stellen können, oder wir scheitern am Menschsein und verbleiben „wise animals“. Diese Argumentation bietet ein Einfallstor für ein völlig falsch verstandenes Menschsein und durch seine Reduktion auf den Verstand die Möglichkeiten dafür, Menschen dieses abzusprechen und sie aus der Gruppe „Mensch“ auszuschließen. Sind Personen mit kognitiven Einschränkungen dieser Konzeption nach Menschen? Sind es Individuen, die an Krankheiten wie Demenz erkranken? Lässt sich das Menschsein verlieren?

Hier liegt für mich die größte Schwäche des Buchs. Es scheitert in diesem Punkt an seinem eigenen Anspruch, einen Umgang mit Identität zu finden, der nicht reduktionistisch ist. Denn genauso wie der Titel selbst, Radikaler Universalismus, ist auch der Untertitel, Jenseits von Identität, zugespitzt. Boehm möchte Identität nicht abschaffen, sondern er macht die große Frage danach auf, wie, in welchem Kontext und mit welchem Ziel das Sprechen von Identität sinnvoll ist.

Identität und Menschsein

Im Epilog seines Buchs erzählt Boehm von einer Freundin, die dieses zur Probe las und schließlich zurück meldete, es sei eben ein rein intellektuelles Unterfangen, also in sich logisch und geschlossen argumentiert, jedoch ohne sich realweltlich die Finger schmutzig zu machen. Diesen Einwand nimmt Boehm sehr ernst und wird daraufhin einmal konkret, indem er auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu sprechen kommt. Hier ist es wichtig, einmal auf Boehms eigene Identität hinzuweisen: Boehm ist Jude, in Israel geboren und aufgewachsen, mit deutschen Wurzeln, inzwischen jedoch in New York lebend und lehrend. Außerdem hat er vor einigen Jahren bereits ein Buch vorgelegt, das sich ausschließlich mit dem Nahost-Konflikt beschäftigt und in dem er seine Utopie für eine Lösung dieses Konflikts darlegt. Boehm geht in dieser Hinsicht hart mit Israel ins Gericht, wie auch in dem Interview bei Jung & Naiv nachzuhören ist. Er verurteilt die aggressive Siedlungspolitik Israels und wendet sich gegen die Idee, es könnte eine israelische Demokratie geben, da eine Demokratie für alle da ist oder keine Demokratie. Gleichzeitig fordert er von palästinensischer Seite trotz allem Unrecht, das sie erfahren musste, Verständnis für Israel und für die einzigartige historische Situation, aus der heraus sich der jüdische Staat gründete. Boehm lebt, denkt und forscht seit langer Zeit in diesem Spannungsverhältnis und es ist durchaus verständlich, wieso er zu seinem Verständnis des Universalismus gelangt ist, wieso er sich so vehement gegen die Identität wendet. Sein Argument hier ist so simpel wie schlagend: Wenn im Beispiel von Israel und Palästina nur in diesen Identitätskategorien gedacht wird, dann kann der Konflikt nur so enden, dass irgendwann eine Identität die andere auslöscht. Nur wenn beide Seiten einander als Menschen wahrnehmen anstatt als Zugehörige ihrer jeweiligen Gruppen, nur wenn sie anerkennen, dass es ein höheres Gesetz als das von Menschen gemachte gibt, das darauf verpflichtet, keinem Menschen Leid anzutun, kann der Konflikt in Frieden münden.

Es ist diese Art von identitärer Argumentation, gegen die Boehm sich hier richtet und die er vielerorts in der Welt wahrnimmt. Eine Argumentation, die Menschen auf ein Identitätsmerkmal reduziert, entmenschlicht und dadurch Gewalt und Unterdrückung rechtfertigt. Wohl deshalb taucht Martin Luther King Jr. immer wieder als zentrale Figur im Text auf, denn während King eine strukturelle Diskriminierung von schwarzen Menschen aufgrund ihrer Identität als schwarze Menschen identifizierte und bekämpfte, ließ er sich nicht dazu hinreißen, zu einem Kampf schwarz gegen weiß aufzurufen. Er machte das Thema größer, universell, er rief zum Kampf der Gerechten gegen die Ungerechtigkeit auf, mit dem Argument, dass solange Ungerechtigkeit existiere und an manchen Menschen ausgeübt werde, diese Gefahr für alle Menschen besteht.

Doch es gibt noch einen zweiten Grund, aus dem Boehm immer wieder auf King verweist, einen, den er im Interview bei Jung & Naiv anspricht. Denn es gibt die Kritik am Universalismus, dass er weiß, europäisch und kolonialistisch sei, also auch durch eine bestimmte Gruppe geprägt ist, die nicht nur immer wieder an diesen Werten scheiterte, sondern sie so weit pervertierte, dass sie daraus Unterdrückungsregime legitimierte. Boehm argumentiert hier wiederum mit einem falsch verstandenen Universalismus und verweist immer wieder auf King. Mich jedoch hat nach der Lektüre dieser Einwand lange beschäftigt und ich möchte hier mit Bezug auf den Text Universalismus, Partikularismus und das Streben nach menschlicher Würde von Siba Grovogui, Professor für Internationale Beziehungen und Politische Theorie am Africana Studies and Research Center der Cornell Universität, noch einige historische Beispiele aufrufen, die weniger Amerika-zentrisch sind als die in Boehms Buch. Denn Grovogui verweist auf die brasilianischen Quilombos, konföderale Staatsgebilde, die 1605 von geflohenen schwarzen Sklaven gegründet wurden und die haitianische Revolution von 1805, als auch hier schwarze Sklaven sich von ihren Herrschern befreiten und eine eigene Verfassung schrieben. In beiden Fällen fußte die neue Gesetzgebung auf universalistischen Prinzipien und deklarierte eine umfassende Würde des Menschen. Darüber hinaus kann Grovogui zeigen, dass diese Bewegungen auch die Formierung des Universalismus in Europa beeinflussten. So war etwa eine Delegation aus dem befreiten Haiti entscheidend mit dafür verantwortlich, dass im post-revolutionären Frankreich die Sklaverei abgeschafft wurde. Ähnliche Einflüsse lassen sich auch aus afrikanischen (Ex-)Kolonien zeigen.

Zweierlei wird hierdurch klar: dass universalistische Ideen in allen Teilen der Welt immer wieder auftauchten und nicht an sich europäisch sind (im Gegensatz zu vielen Institutionen, welche die universellen Menschenrechte konstituierten und bis heute hüten), dass aber die Geschichte des Universalismus oft zu eurozentristisch erzählt wird. Letzteres ist auch Boehm und dessen Quellenauswahl vorzuwerfen.

Dennoch zeigt er an seinen Beispielen sehr deutlich, dass es sinnvoll und notwendig ist, über Identität zu sprechen, wenn diese zu einer strukturellen Diskriminierung von Menschen führt. Gleichzeitig stellt er das Menschsein an sich über jedes Identitätsmerkmal, um eine Zersplitterung in Gruppen und ein Ausspielen dieser Gruppen gegeneinander zu verhindern.

Fazit

Es handelt sich bei Boehms Werk zum Universalismus um ein komplexes, teilweise kompliziertes Buch. Sprachlich ist es auf einem hohen Niveau, deshalb jedoch nicht schwer verständlich und auch nicht sonderlich voraussetzungsreich, da er seine Beispiele ausführlich erklärt und äußerst genau bearbeitet. Es ist, und auch da scheint das Menschengemachte durch, nicht ohne Schwächen und Fehler, macht aber im Kern ein Argument stark, mit dem sich auseinanderzusetzen sich auf jeden Fall lohnt. Schon lange hat mich kein Buch mehr so nachhaltig zum Grübeln gebracht wie dieses und allein deswegen kann ich es empfehlen, vor allem Lesenden, die Spaß daran haben, mit einem Buch und sich selbst in einen kritischen Diskurs zu treten.

Quellen

Boehm, Omri: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin. Propyläen, 2022.

Grovogui, Siba N.: „Universalismus, Partikularismus und das Streben nach menschlicher Würde.“ In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Vol. 66 (10-11), 2016. Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen. S. 36-39.Jung, Thilo: Jung & Naiv. Episode: „#617 – Philosoph Omri Boehm über radikalen Universalismus & Israel.“ Dezember 2022.