Märchen sind wieder cool. Ob es am allgemeinen Fantasyhype liegt, der vielleicht durch Herr der Ringe ausgelöst wurde, oder ob das schon länger geht, kann ich wirklich nur raten. Andere behaupten Harry Potter ist dafür verantwortlich, was aber definitiv ein falsches Gerücht ist. Die Fantasyalternative rückt langsam in den Vordergrund. Mit The Walking Dead ist eine Zombieserie Rekordhalter des amerikanischen Kabelfernsehens, Once Upon a Time ist in den Staaten die erfolgreichste Dramaserie der letzten Saison und Supernatural bekommt inzwischen eine achte(!) Staffel. Mythen, Sagen, Märchen und Legenden sind cool. (Ich fang noch gar nicht mit Shrek und ähnlichem an.)
Umso wichtiger ist es mir dabei, dass die Krone aller Medien – so meine Meinung – das arme, viel vernachlässigte, abgeschobene und belächelte Comic nicht zu kurz kommt.
Bill Willinghams Fables nimmt Märchen (alle), wirft sie in einen Topf, würzt mit einer guten Portion Witz und jede Menge Einfallsreichtum, rührt um und schüttet etwas ganz großartiges über die Seiten. Das Ergebnis sieht so aus, dass Bigby Wolf, der große, böse Wolf, wie wir ihn kennen, zusammen mit Snow White und diesem Jack, von dem kein Europäer was gehört haben mag, weil wir ihn nur als Hans (Hans im Glück, Hans und die Bohnenranke…) kennen, zusammen sitzen und sich unterhalten:
„You’re lying now, because you always lie“, brummt der große böse Wolf, der inzwischen der misstrauische und unbeliebte Sheriff von Fabletown ist.
„Not this time!“ behauptet Jack, der Taugenichts und Halunke, der Han Solo und Cap’n Malcolm Reynolds in nichts nachsteht.
Schneewittchen ist jetzt stellvertretende Bürgermeisterin und die eigentliche Herrin von Fabletown. „Jack, did you ever hear about the boy who cried wolf?“
„Sure, he lives up on the seventh floor. So what?“
Resigniert wendet sich die kühle Schönheit ab. „Never mind.“
Die Protagonisten der Geschichten sind die Darsteller des Comics, die Erzählungen selbst sind ihr Material. Die Figuren sind sich seltsam bewusst, dass sie Erzählungen sind. Und das auf so vielen Ebenen, dass ich gar nicht versuchen will, dieses Kunstwerk durch Auflösung zu entwürdigen. Im spin-off Jack of Fables, das zweifellos das Beste ist, was ich jemals gelesen habe, wird genau das oft und gerne getan. Jack erzählt seine Abenteuer aus eigener Perspektive im schönen kleinen Erzählkasten. Die Bilder, die die Handlung zeigen, sprechen aber von einer ganz anderen Geschichte. Gerade wenn man glaubt es könnte nicht mehr selbstreferentieller werden, tritt der personifizierte Deus ex machina auf und rettet Jack aus einer brenzligen Situation. Seine Widersacher fallen einfach um, weil der Deus ex machina es so wünscht. Dann entschuldigt er sich mit den Worten „Ich kann immer nur einmal eingreifen, sonst werde ich alt, und ich bin noch zu jung, um alt zu werden“ und verlässt zusammen mit der fleischgewordenen vierten Wand die Szene.
Ich wäre aufgesprungen und hätte applaudiert, wäre ich nicht zu scharf darauf gewesen, wie es weitergeht. Die Handlung, das Drama und die Geschehnisse stehen der Idee nämlich in nichts nach. Jetzt, Monate nachdem ich es gelesen habe muss ich mir Tränen aus den Augen wischen, wenn ich nur daran denke.
Gerade Gestalten wie Jack kommen dem Europäer aber trotzdem merkwürdig vor. Es ist keine sehr große kulturelle Vielfalt, da drüben, in dieser Weltmacht gewordenen Kolonie, die sich gerne als „Amerika“ bezeichnet und die eigenen vereinigten Staaten meint. Das meiste an Kultur erinnert an Bürgerkrieg und Völkermord, der das, was sie an wirklicher Kultur hätten haben können, den Rest gegeben hat. Trotzdem hat sich jemand den Begriff Americana dafür ausgedacht. (Wir denken bei dem Begriff an Hadestown und Johnny frakking Cash, aber es steckt doch mehr dahinter. Außerdem: Wenn wir deutsches Kulturgut meinen (was ja ein sehr homogenes und klar abtrennbares Ding ist) und Teutonica sagen, schauen wir aus wie Altnazis.)
Aber das ist wirklich ein anderes Thema. Es gibt ja tatsächlich eine relativ reiche Kultur da drüben an Erzählungen und Geschichten, und die werden von Fables erfasst. Die Comicreihe setzt sich mit allem, was Märchen im weitesten Sinne ist, auseinander. Darunter eben auch eine Reihe an Märchen, die wir nur noch entfernt kennen. Goldlöckchen kennen einige, die Bohnenranke ist durchaus noch bekannt, aber spätestens bei Jack Horner hört es dann schon auf. All diese Geschichten, Fabeln und teilweise auch Lieder sind Teil einer Referenz, die wir gar nicht verstehen. Nichtsdestotrotz ist auch auf der Oberfläche Fables einfach nur eine grandiose Geschichte:
Der Feind hat die Märchenwelt überrannt. Keiner kennt die Identität hinter dem Feind. Aber er scheint ziemlich böse zu sein. Sein Heer besteht hauptsächlich aus Kreaturen. Orks und sowas. Aber auch einige Fables haben sich dem Feind angeschlossen, allen voran die Schneekönigin, die als sein erster Offizier unterwegs ist. Die meisten Fables sind in unsere Realität geflohen, wo sie jetzt ein magisch verborgenes Viertel irgendwo in Manhattan kontrollieren, in dem sie wohnen. Auf einer ebenso geschützten Farm außerhalb leben die Fables, die sich nicht für Menschen ausgeben können und irgendwo in Bagdad gibt es da noch das orientalische Pendant zu Fabletown. Erzählt ist es mit den besten Gamechangern, blauen Blumen, Cliffhangern, überraschenden Wendungen, Katharsis und dem ganzen Mist, den man so braucht. In einer herrlichen Kunst, die seit den letzten neun Jahren bei immer wechselnden Künstlern wenig verliert. Mit Dialogen, die selbst Leuten, die Amy Sherman-Palladino und Joss Whedon gewöhnt sind, Tränen in die Augen treiben. Und köstlichem Humor. Und einer Portion Düsternis. Und Obszönitäten. Großartig. Herrlich. Einfach lesen. Es ist jedes Geld wert.
Übrigens läuft die Serie schon seit 2002 und damit eine der lang laufenden Comicserien, ohne Ende in Sicht. 2005 sollte eine Serie entstehen, aber NBC hat lieber dass daraus gemacht was wir heute als Grimm kennen und auch ABCs Once upon a Time gäbe es so wohl nicht. Nach dem Erfolg vom letzteren, regt sich bei Fans natürlich die Hoffnung, dass es mit einer Fables-Fernsehserie doch noch was wird. Auch wenn der Creator Bill Willingham schwarz sieht.
Der hat übrigens auch erfolgreich mit Joss Whedon an seinen Comicprojekten gearbeitet. Denn Joss Whedon ist überall.
So say we all.
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