Seit 15 Jahren bin ich enthusiastischer Videospieler, aber mit jedem weiteren Jahr kann ich das Medium weniger leiden. Vice argumentierte vor zwei Monaten “Videospiele sind der größte Scheiß”, und kam dabei den Ursachen meiner steigenden Abneigung schon relativ nahe. Allerdings ist das eben ein Vice-Artikel und die nimmt man immer nur so ernst, wie man selbst gerade Lust hat, was sich auch in deren Kommentarbereich deutlich widerspiegelte. Mein Problem ist folgendes: Spiele und die dazugehörige Fankultur scheinen mittlerweile gleichermaßen populär wie einfältig zu sein. Inzwischen vermeide ich es, im Gespräch mit Fremden oder in Facebook-Postings hervorzuheben, dass ich mich darin auskenne. Videospiele haben für mich demnach den gleichen beschämenden Stand wie Pornographie.
Als ich letztens eine Essay-Serie über James-Bond-Filme entdeckte und der Autor, FilmCritHulk, einleitend den Unterschied zwischen Kunst und Pornographie erklärt, wurde mir klar, dass mein Vergleich gar nicht so abwegig ist. Er schreibt (für bessere Lesbarkeit hier auf Deutsch und im Bruce-Banner-Modus):

In der Bandbreite des Medienkonsums gibt es “bedeutungsvolle Kunst” (purposeful art) auf der einen Seite und “Pornographie” auf der anderen Seite. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, da beide Seiten eine Rolle in unserem Leben erfüllen. Jedoch ist der Grundgedanke der Pornographie im Mediumkonsum ein rein funktioneller und utilitaristischer. Es geht ums Loslösen, sexuell oder anderweitig. Es geht um Realitätsflucht und Fantasie. Es geht um ekstatische Emotionen und mentale Masturbation. Du verdrängst dein Selbst und lässt dich auf ein Erlebnis ein, in dem all deine Wünsche erfüllt werden. Weil Pornographie sich DIR verpflichtet. Es ließe sich nun diskutieren, ob darin etwas grundsätzlich Schädliches liege, aber einigen wir uns erst einmal darauf, dass die meisten Leute diese Form der Befriedigung brauchen. Wichtig ist hierbei allerdings, wie bei den meisten Dingen im Leben, dass man sich dessen bewusst ist und einen Ausgleich herstellt.

Das Genre-Korsett

Pornographie hat demzufolge also nicht zwangsweise etwas mit Sex zu tun, sondern kann als Oberbegriff all das umschließen, was nur käufliche Befriedigung und Wunscherfüllung im Sinn hat. Dass dieser Bedeutungsinhalt schon lange so verstanden wird, belegt die immer wieder aufkommende Diskussion um das Horrorfilm-„Subgenre“ der Folterpornos. Die Saw-Filme werden schnell als solche abgestempelt, weil ihre Kritiker beanstanden, sie würden unreflektiert lediglich die sadistischen Gelüste des Zuschauers sättigen. Im Drama-Bereich findet sich der Begriff ebenso wieder. Zyniker (wie ich) bezeichnen beispielsweise die Filme von Alejandro González Iñárritu (21 Grams, Babel) als „misery porn“, also Werke, die einfach episodenhaft tragische Geschichten herunterleiern, um dem Publikum ein paar Tränen abzudrücken und Betroffenheit hervorzurufen. Fans von Iñárritu wissen genau, was sie bekommen, wenn sie sich ein Kinoticket kaufen und er erfüllt ihre Erwartungen. Gleiches gilt für Bücher wie Ich hab die Unschuld kotzen sehen. Es wird eine Fantasie aufgebaut, die nichts weiter als einen kathartischen Zweck erfüllt. Wie Hulk schon erwähnte, ist das – in Maßen – nicht verwerflich und für Viele wahrscheinlich auch das angenehmste Mittel zur Stressbewältigung und kurzfristigen Realitätsflucht. Ein Ausgleich lässt sich bei Büchern und Filmen dann einfach durch anspruchsvollere Kost herstellen. Bei Videospielen sieht das jedoch anders aus: Überlegt einfach, wie viele Vertreter euch einfallen, die vordergründig tatsächlich mehr erreichen, als bloß eine Machtfantasie zu befriedigen.

Toll, du bist vielleicht auf das entmutigende Dark Souls und ein paar Indie-Titel gekommen. Das war’s dann aber fast schon. In klassischen Rollenspielen ist man gewöhnlich immer der Auserwählte, der das Königreich rettet. In Call of Duty und Medal of Honor gewinnt man eigenhändig Nahost-Konflikte. Versuchen Entwickler diese typischen Genre-Tropen subversiv zu umgehen, scheitern sie aufgrund eines apodiktischen Zwangs, Action-Standards befolgen zu müssen. Der Deckungs-Shooter Spec Ops: The Line will dem Spieler innerhalb der letzten 10 Minuten ein schlechtes Gewissen machen: „Wieso hast du in den vergangenen fünf Stunden all diese Menschen getötet? DU bist der eigentliche Bösewicht!“. Dieser Twist ist so altbacken wie wirkungslos, da der Spieler aufgrund der beschränkten Spielmechanik nie eine andere Wahl hatte. Der Napalmangriff im zweiten Akt? In einem nicht-linearen Spiel wäre mir nicht einmal der Gedanke gekommen, sowas zu nutzen. Innerhalb von Genrestandards und damit einhergehenden Regeln einen konsistenten Kommentar abzugeben, ist also nicht leicht. Hinzu kommt, dass die ersten Erwartungen an ein Spiel logischerweise zunächst spielerischer Natur sind und nicht narrativer. Man geht gewohnheitsgemäß davon aus, dass Systeme schlüssig ineinander greifen, Gameplay-Loops bis zur Suchtgrenze motivieren und Belohnungen von allen Seiten kommen. Man erwartet nicht, dass diese Systeme bewusst Gegensätze herstellen oder der Spaß-Prämisse widersprechen, um künstlerische Intentionen offen zu legen. Far Cry 2 fiel deswegen gnadenlos bei den Spielern durch. Als Freiheitskämpfer in Afrikas Savanne erhöhten nicht nur feindliche Waffenhändler den Stressfaktor, sondern man musste sich auch noch mit verschleißenden Schießeisen und einer Malaria-Infektion herumschlagen. Dies trug zwar zum Realismus bei und machte deutlich, wie (nerv-)tödlich eine Tropenkrankheit sein kann, aber behinderte dabei den Spielfluss so sehr, dass die Metacritic-User die Erfahrung mit einer 5.7-Wertung abstraften. Wir wollen nicht belehrt werden, sondern Spaß haben. Wir wollen, dass unser Spaßbedürfnis befriedigt wird. Wir wollen, dass das Medium uns dient, sich uns verpflichtet. Wir wollen Pornographie.

Autonome Ausnahmen

Was genau ist nun Kunst? Hulk behauptet Folgendes:

Ja, Kunst kann alles sein, solange wir es Kunst nennen. Aber es geht hier um eine bestimmte Form von Kunst, die im Zentrum von allem in unserem Leben steht. Bedeutungsvolle Kunst ist der Grund, wieso wir Geschichten erzählen und wieso wir am gemeinsamen Erleben teilnehmen. Es geht darum, wie wir die Geschichten unseres Lebens formen und ihnen Kontext und Bedeutung geben. Bei dieser Art von Kunst geht es nicht darum, was wir wollen, sondern stattdessen was uns weiterbringt. Sie stellt uns vor Konflikte, fordert unsere Denkbilder heraus, und gestaltet den größeren Sinn des Lebens. Kunst ist in der Lage, uns auf bedachte Weise zu prägen. Kunst erweitert unser Bewusstsein (…)

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Spontan fallen mir da durchaus Beispiele ein, die auf dieser Seite des Medien-Spektrums landen. Papers, Please ist ein Simulations-Spiel, in dem man die Rolle eines Grenzwächters übernimmt und anhand rigoroser Vorschriften entscheiden muss, wer einwandern darf und wer nicht. Der Spielablauf besteht daraus, Ausweise und Visen minutiös auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Dieses Grundkonzept wirkt auf den ersten Blick so langweilig und trocken, dass Spaß und eskapistisches Bestreben meilenweit entfernt scheinen. Aufgrund des dystopischen, Orwell-inspirierten Szenarios, adrenalinfördernden Zeitdrucks, und eines herzzerreißenden Meta-Spiels, in dem man verzweifelt seine Familie vorm Hungertod bewahrt, entwickelt Papers, Please dennoch eine ganz eigene, fesselnde Wirkung – und vermittelt nebenbei, wie selbst die ehrenwertesten Absichten unter bestimmten politischen Umständen korrumpiert werden können. Die dabei empfundene Machtlosigkeit und Frustration sind genau das, worauf das Spiel hinaus will. Es ist kein Erlebnis, das sich direkt mit Spaß assozieren ließe, ist aber dafür umso lehrreicher. Gleiches gilt für das kürzlich veröffentliche Interactive-Fiction-Adventure Depression Quest, das in seiner Beschreibung von vornherein „warnt“, es beabsichtige keine spaßige Unterhaltung, sondern Aufklärung und Hilfestellung für Depression. Bei solchen anspruchsvolleren Werken stößt vor allem die deutsche Spielepresse an ihre Grenzen, die in ihrer Berichterstattung nur nach reinem Spaßfaktor urteilt, in Kolumnen und Diskussionsrunden aber trotzdem groß davon tönt, alle Videospiele seien selbstverständlich Kunst. Diese Selbstverständlichkeit ist problematisch, weil sie kritische Auseinandersetzung obsolesziert, man sich aber, wie bereits erwähnt, der Wirkung von Pornographie stets im Klaren sein sollte:

Polizei-Pornographie

Auf den diesjährigen Spielemessen E3 und Gamescom wurde Battlefield: Hardline groß angepriesen. Der neueste Ableger einer Shooter-Serie, die inzwischen für realistische Umgebungszerstörung auf großflächigen Mehrspieler-Karten bekannt ist, und ihre Spieler durch ein verzweigtes, langwieriges Waffenupgrade-System bei der Stange hält. 100 Kills und meine AK47 bekommt ein treffsicheres Zielfernroher, 50 Headshots und ich darf sie grün anmalen. Um auch ein möglichst umfangreiches Arsenal an Panzern, Hubschraubern und Kampfflugzeugen zu rechtfertigen, wurden bisher fiktive Kriegsszenarien erdacht, die allerdings stets so inkonsequent, abstrakt und gesichtslos waren, dass eine Identifikation mit jeglicher Fraktion absurd erscheint. Die Siegbedingungen bestehen aus „Fahne hissen“ oder „Kisten sprengen“. Per Menüoption sprechen sogar die Chinesen Deutsch. Man konnte den Spielen also nicht vorwerfen, sie würden irgendeine spezifische Machtfantasie eines Landes repräsentieren. Wer in der Hinrunde als Amerikaner gewinnt, hat dank der verspielten Mechaniken die gleiche Motivation auch in der Rückrunde als Russe. Diese Unbeschwertheit gibt es in Battlefield: Hardline so nicht mehr.

Um Ermüdungserscheinungen, aufgrund mangelnder Innovation bei jährlichen Ablegern, entgegen zu wirken, greifen Publisher und Entwickler nun auf ein beliebtes Heist-Setting zurück, das die Spieler in die Rolle von Polizist beziehungsweise Kriminellen versetzt – die Spielziele bleiben seriengetreu nahezu gleich. Dadurch entsteht allerdings eine bedenkliche Dissonanz. Gut und Böse sind jetzt klar ersichtlich und die Konflikte sind ungleich näher, weil die Gesetzeshüter nicht in der Ferne, sondern im eigenen Land bzw. im eigenen zivilen Raum operieren. Man hat eine klare Vorstellung davon, was ihre Aufgabe sein sollte – Massenmord und das Verwüsten ganzer Straßenzüge gehören nicht dazu. Beschenkt man einen Polizisten, der 50 Verbrecher mit einem Kopfschuss erledigt hat, mit einer neuen bunten Waffe und platziert ihn wegen seines herausragenden Kill-Death-Verhältnisses an der Spitze der Rangliste, kann ich nicht umhin, als die damit verkaufte Fantasie besorgniserregend zu finden. Vergleicht einfach mal dieses Video:

mit diesem Video:

Entgeistert fragt einer der Dudes am Ende des zweiten Videos: „Has our city gotten that fuckin‘ bad?“ Im echten Leben ist man von dieser absurden Militarisierung der Polizei schockiert. Die Gefahr bei Battlefield: Hardline besteht darin, dass man diese Bilder einfach hinnimmt, sie als Mittel zum Zweck akzeptiert und sich sogar auf neue Aufrüstung freut. Man wird desensibilisiert. Die Entwickler präsentieren das Geschehen so realistisch wie möglich, lizenzieren echte Waffennamen und prahlen in Interviews davon, wie gut doch die Bewaffnung der amerikanischen Polizei in ihrem Spiel recherchiert sei. Über die Wirkungsweisen der Präsentation wird scheinbar nicht nachgedacht oder es ist ihnen egal, und einen kritischen Kommentar traut man sich gar nicht erst zu. Hätten sie den Realismus- und Kritik-Gedanken weitergeführt, müsste das Polizisten-Team am Ende jedes Matches mit haufenweise Papierkram zu Stellungsnahmen überschüttet werden und Pressekonferenzen abgehalten werden, um die Zerstörungsorgie zu rechtfertigen. Dass die Integration solcher Spielelemente unwahrscheinlich ist, ist mir bewusst, aber dann sollte sich auch keiner beschweren, wenn ich das Spiel als stumpf-militante Polizei-Pornographie missbillige.

Borniertes Publikum

Wie mittlerweile mehrfach erwähnt, ist psychischer Schaden dem Pornographiekonsum nicht inhärent, und ich will auch überhaupt nicht advozieren, dass so etwas gänzlich verboten gehört. Viel wichtiger ist, dass man sich des Ganzen bewusst ist und vielleicht lieber doppelt darüber nachdenkt, ob man solche Werke in den Himmel lobt und sie wie Kunst behandelt. Niemand würde Alice im Ständerland als hohe Filmkunst würdigen. Und wenn ich von Bewusstsein spreche, meine ich damit nicht, dass man sich von Anfang an denkt: „Ach, es ist ja nur ein Spiel“. Das ist zu einfach. Medien haben die Macht, Sichtweisen zu beeinflussen (wozu gäbe es sonst die Werbeindustrie?), ob das nun von den Produzenten beabsichtigt ist oder nicht. Man muss sich der Funktionsweisen im Klaren sein und die Untertöne erkennen, um auch in der Lage zu sein, sich ihrem Effekt zu verweigern. Es ist kein Zufall, wenn in Kriegsgeschichten (Bücher, Filme oder Spiele) nur von männlichen Kämpfern die Rede ist, und dann im echten Leben tatsächlich Menschen der Meinung sind, Frauen würden als Soldaten nichts taugen. Denkt man darüber nach, wie eigentlich eine eigene Meinung entsteht, kommt man unumgänglich auf Medien zurück. Deshalb ist es im Prinzip schon eine Bürgerpflicht, Medien verantwortungsvoll zu konsumieren.

Wer sich jetzt denkt, das Problem mit Battlefield: Hardline erkannt zu haben, und meint, das Ganze sei hierzulande ja nicht wirklich ein Problem, dem würde ich wohl zustimmen. Trotzdem ist es ein offensichtliches Beispiel für die Verantwortungslosigkeit der Spieleindustrie. Sexismus ist ein Problem, das es in Deutschland gibt und Videospiele noch lange nicht im Griff haben. Weil aber alles, was ich dazu sagen könnte, sich sowieso auf Anita Sarkeesians systematische Analyse-Videos berufen würde, verweise ich einfach direkt auf ihr neuestes Video „Women as Background Decoration“. Sie macht darauf aufmerksam, dass Frauen viel zu häufig als sexualisierte Hintergrund-Objekte in Spielumgebungen platziert werden, damit die Atmosphäre düsterer und das Spiel erwachsen wirken. Sie weist auf die Doppelmoral hin, wenn Spieler behaupten, Mittelalter-Rollenspiele ohne Exploitation von Frauen seien unrealistisch, aber im gleichen Zuge die Existenz von Drachen, Zauberern und unendlich großen Loot-Beuteln akzeptieren. Es ist nicht ihr Ziel, Spielerschaften zu verdammen, sondern sie will deren Weltbild erweitern und Problembewusstsein wecken. Womit antworten die Gamer? Sie senden ihr Morddrohungen, publizieren ihre Hausadresse und planen Vergewaltigungen. Aber wen wundert das eigentlich noch, wenn jemandes Hobby daraus besteht, Medien unreflektiert zu konsumieren und daraus seine Identität zu bilden?

Zum Weiterbilden: