Die Zuschauer erwartet ein düsteres Szenario, als sie den Theaterraum betreten: minimalistische Beleuchtung, ein Schimmer des aufkeimenden Mondes, in den Raum geworfen durch eine Lücke in der ansonsten gänzlich geschwärzten Fensterfront. Auf der Bühne die gesamte Besetzung des Theaterstücks, außer den zwei „Wissenden“ (Eva Hofem und Daniela Mengdehl), die im Original von Oscar Wilde nicht vorkommen. Sie postieren sich wenig später am Rand der Bühne verharren dort.
Die übrigen Personen sitzen auf Stühlen im Halbkreis aneinandergereiht und schweigen. Alle tragen weiße Halbmasken, wie man sie aus venezianischen Karnevals kennt. In der Mitte des Halbkreises: Salome (Helena Michel), ganz in weiß.
So wie es los geht, geht es auch weiter und so endet es auch: Pathetisch. Verglichen mit der Bedeutung und der Wichtigkeit die es im Stück einnimmt, ein viel zu kleines Wort.

Der junge Syrier Narraboth (Sid Wolters) wird zu Beginn der Vorstellung heftig von einer Frau, die offensichtlich in ihn verliebt ist, angeschrien, er solle sie nicht so anstarren. Gemeint ist Prinzessin Salome, die der junge Syrier sehr begehrt. Seine Geliebte, die Hofpagin (Caecilia Sauer), duldet das nicht.
Salome wiederum ist in den Propheten Jochanaan verliebt, weil sie seine roten Lippen und die weiße Haut so schön findet. Trotzdem, oder gerade weil Salome so auf Äußerlichkeiten fixiert ist, lässt sie der Prophet links liegen. Wegen der unerwiderten Liebe zu Salome verzweifelt, bringt sich der junge Syrier Narraboth um. Salomes Eltern verstehen sich nicht mehr gut, einerseits weil Salomes Mutter ahnt, dass ihr Mann (König Herodes, gespielt von Thilo Körting) seine Stieftochter regelmäßig missbraucht und vergewaltigt, andererseits haben sie sich wohl nie wirklich geliebt.
Salome fordert von ihrem Vater, Jochanaans Kopf abzuschlagen. Herodes sträubt sich erst dagegen, willigt aber schließlich ein. Anscheinend übermannt von den Geschehnissen und einer augenscheinlich etwas labilen Persönlichkeit geschuldet, lässt Herodes auch seine Tochter töten. Begleitet wird die Handlung von den zwei Wissenden, die tonlos gesprochene Hintergrundinformationen zur Handlung geben und Kommentare zu Salomes Vergangenheit in den Raum sprechen. „Manchmal, da nimmt er einen Finger und guckt wie weit ich da unten schon bin“, „Und dann soll ich mein Höschen ausziehen und ihm meine Muschi zeigen“. Wahrheiten in mitten eines maskierten Volks.
Zu verbuchende Tote am Ende der Vorstellung: drei. Tatsächlich hat man das Gefühl, die Tode würden verbucht. Das Gefühl, es käme gleich ein Sachbearbeiter, der die Toten vom Boden aufhebt und sie in einem Ordner einsortiert, unter dem Register „Salome 2011/Bayreuth“, da dieser Ablauf stets sehr sachlich über die Bühne geht. Die gerade vor ihrem Tod stehende Figur zieht sich langsam die Halbmaske vom Kopf und lässt sich auf den Boden fallen. Kein Geschrei, kein Gekreische.
Was hat das zu bedeuten? Die weißen Masken als Zeichen für die Unehrlichkeit der Personen? Die Unfreiheit des Charakters in einer unfreien Gesellschaft, deren Mitglieder ihr Selbst nicht ausleben dürfen und dies somit mit Perversionen in Form von inzestuöser Vergewaltigung und Köpfungen kompensieren müssen? Oder gleich die herbeigesehnte Erlösung im Tod suchen; der Zeitpunkt, wenn man seine Maske endlich abziehen darf? Dies wäre eine sachliche, aber gute Interpretationsweise Oscar Wildes Drama.
Ganz ordentlich, dem Sachbearbeiter ein Vorbild gebend, wurde auch in anderen Teilen der Inszenierung verfahren. Die spannenden Stellen des Dramas wurden vorsorglich zensiert. Gemeint ist die Vergewaltigung Salomes, in der sich die schlecht bezahlten Schauspieler nicht einmal dazu heran bequemen ein einziges Kleidungsstück auszuziehen, oder etwas aggressiv, lustvoll, schmerzverzerrt, oder wie auch immer, zu schauen. Das ist nach Meinung der öffentlichen Voyeurismusbrigade: Unglaubwürdig. Wahrscheinlich haben die Schauspieler gestreikt. Man hat sie einfach zu schlecht (gar nicht) bezahlt. Das ist ja auch üblich im Amateurtheater, nur sollte man Passivstreiks auf der Bühne verhindern.
Die zweite spannende Szene in Oscar Wildes Drama: Salome bekommt den Kopf des Propheten auf einem Silberteller serviert und küsst ihn auf seine schönen roten Lippen. Diese Szene wurde getilgt und ersetzt durch das übliche „ich bin müde, ich zieh mir mal die Maske vom Kopf“. Schade einerseits, konsequent andererseits. Außerdem wird wohl das mangelnde Budget hauptverantwortlich für die Entscheidung gegen einen sichtbaren, abgeschlagenen Kopf gewesen sein.
Was hätte die Inszenierung zu einer gelungenen werden lassen? Genau: Die Schauspieler besser bezahlen. Dann hätten die armen geplagten Hunde auch nicht durchgehend hecheln, keuchen, weinen und schnaufen müssen, um ihre schlechte finanzielle Situation zu verdeutlichen. Sie hätten sich vielleicht damit zufrieden gegeben, ab und zu, zum Beispiel gegen Ende des Stücks den großen Pathos hervorzuzaubern. Der Vorteil wäre dann auch gewesen, dass man als Zuschauer besser differenzieren hätte können, ob denn gerade etwas Wichtiges/Schlimmes/Tragisches passiert. So war das Ganze etwas anstrengend und ernüchternd, da man sich die millionste Reproduktion (Glückwunsch zum Jubiläum) einer antiken Tragödie, die sich den uneleganten Mitteln der Übertreibung und der Ekstase bedient, ansehen musste.
Die Bühne wurde modern sehr minimalistisch, oder böswillig ausgedrückt einfallslos, gehalten. Hintergrund war eine weiße Leinwand, dessen Lichtabstrahlung durch rückwärtige Beleuchtung sehr gut die verzweifelte, diffuse Stimmung unterstrich. Dennoch war diese Leinwand sehr raumgreifend. Man wurde doch immer wieder daran erinnert, dass man in einer Universität sitzt. Eine leichte Bebilderung des Geschehens hätte da eventuell Abhilfe verschafft. Zumal die Handlung in keinen modernen Kontext transferiert wurde. Dabei hätte man die Möglichkeit gehabt. Ein kurzer Blick in die Wikipedia klärt uns auf: Salome steht im biblischen Kontext für erotische Verführung und übermäßige Körperlichkeit. Oscar Wilde zielt in seinem Drama auf die Darstellung als femme fatale ab. Auf Anspielungen an die Neuzeit wurde gänzlich verzichtet. Man befand sich ohne Zweifel in Galiläa. Kurz nach der Geburt von Jesus.

Paula Tiedge hat einen mutigen Schritt gewagt, mit dem Entschluss die selten zur Aufführung gebrachte biblische Thematik zu inszenieren. Provozieren wollte sie (mit dem einst auf dem Index verzeichneten Stück) damit nicht, konnte sie auch gar nicht. Man sollte sich als Zuschauer voll und ganz auf die schön gewählten Worte Oscar Wildes besinnen, ohne von prunkvoller Ausstattung, oder unnötiger Nebenhandlung abgelenkt zu werden. Die werkuntreue Inszenierung tat gut daran, nicht den ganzen schweren Teig der Handlung auszuwalzen, sondern nur Teile davon zu benutzen, um schlichte Plätzchen halbfertig zu backen.
Erwähnenswert ist hierbei auch das sehr gut gelungene Gedicht von Lena Tiedge, der Schwester der Regisseurin, deren Beitrag im Programmheft abgedruckt wurde.