München, Mitte der 1990er Jahre: Tobias Lehnert, Protagonist in Andreas Bernards erstem Roman „Vorn“ hat gerade sein Studium beendet. Zukunftsplanung? Keine Ahnung. Als er einen Artikel über das Faszinosum Flippern schreibt, stellt ihn Vorn, DAS Trendmagazin der Stadt als festen Autor ein. Vorn ist eigentlich fiktiv, weist aber starke Ähnlichkeit mit der in den Neunzigerjahren populären Jetzt-Beilage der Süddeutschen auf.
Während Tobias nun also Jugendkulturartikel für Vorn konstituiert, wandelt er sich langsam vom kapuzenpullitragenden „Ich-weiß-nich-so-recht-was-ich-nach-meinem-Studium-machen-will“ Praktikanten zum Helmut-Lang-anzugtragenden „Wir-bestimmen-Trends-und-geben-nicht-viel-auf-deine-Meinung“ Star-Yuppie-Redakteur.
„>>Location<< gehörte in der besonders aufgeheizten Zeit beim Vorn, in der >>stalinistischen Phase<<, wie die Jüngeren in der Redaktion jetzt manchmal sagten, zu den verbotenen Worten. Es stand ungefähr in einer Reihe mit >>Caipi<<, >>lecker<< oder >>brunchen<<, und wenn es jemand in ihrer Gegenwart benutzte, verdrehten sie die Augen und tauschten verächtliche Blicke aus.“
Dieser Sprung in den elitären Kreis der aufstrebenden Jungredaktion bleibt auch für Tobias Beziehung zu Freundin Emily nicht ohne Folgen. Spätestens als Praktikantin Sarah, Verkörperung all seiner Katalog-Phantasien, ihren weißen Kookai-Mantel an die Garderobe der Redaktion hängt, ist sich Tobias vollkommen sicher: Das neue Leben ist genau das Richtige.
Andreas Bernards erster Roman analysiert die Identitätssuche eines jungen Mannes Mitte der neunziger Jahre zwischen den Eckpfeilern Liebe und Job. Er liefert eine schnörkellose Dokumentation von Tobias Entwicklung: Beginnend mit der restlosen Begeisterung für das Vorn, über die beinahe Auflösung seiner Persönlichkeit in den festen Regeln des Redaktions-Kosmos, bis hin zum plötzlichen Platzen der Seifenblase Identität.
„ Doch als er eines Abends, etwas mehr als einen Monat nach der Trennung von Sarah, ein Telefonat mit Emily beendete, geschah etwas Unerwartetes mit ihm, ohne jede Vorankündigung. Nicht dass ihm irgendeine bestimmte Bemerkung Emilys besonders nahegegangen wäre, nein, es war ein unaufgeregtes, fast plauderhaftes Gespräch gewesen – aber auf einmal, im Moment des Auflegens, fühlte er, wie ein Riss mitten durch ihn hindurchging, wie er sich, auch körperlich ganz deutlich zu spüren, spaltete. Mit aller Kraft nahm die Erkenntnis in ihm überhand, die letzten Jahre im Widerspruch gelebt zu haben, in zwei unvereinbare Sphären.“
Der präzise Einblick in den Redaktionsalltag, der sich neben den Büroräumen hauptsächlich auf einschlägige Münchner Szene-Treffs begrenzt, gelingt Bernard auch deswegen so gut, weil sich sein eigener Weg zum SZ-Magazin-Redakteur in Tobias Geschichte widerspiegelt. Nachdem Bernard 1995 sein Studium der Neueren deutschen Literatur in München beendet, beginnt seine journalistische Karriere beim jetzt-Magazin, das 2002 aus Kostengründen eingestellt wurde.
Vorn scheint zunächst kein gutes Haar am „Götzen Trendjournalismus“ zu lassen, Bernard zeichnet die Stereotypen der Vorn-Redaktion mit zurückhaltender, aber immer wieder durchschimmernder Abneigung, was sich letztendlich auch auf seinen Protagonisten Tobias überträgt. Am Ende liegt es an ihm allein sich in der Schnittmenge seines alten und neuen Lebens zurechtzufinden. Vorn ist eine Reminiszenz an das München der Neunziger. Dabei lässt sich Bernard aber nicht vom Weichzeichner der Nostalgie einlullen, sondern macht etwas ganz wichtiges, nämlich sich selbst einfach mal nicht so ernst zu nehmen.
Andreas Bernard,1969 in München geboren, studierte u.a. Neuere Deutsche Literatur an der LMU München und schrieb in den 90er Jahren für das Jetzt-Magazin. 2005 veröffentlicht er seine Doktorarbeit „Die Geschichte des Fahrstuhls. Studien zu einem Ort der Moderne“. Heute ist er Autor und Redakteur des SZ-Magazins. Bernard lebt in Berlin. „Vorn“ ist sein erster Roman.
Mara
Noch keine Kommentare