Katharsis ist ein Begriff, der Aristoteles zugeschrieben wird. Er redet davon, dass die Zuschauer einer Tragödie „jammern und schaudern“ sollen, „damit sie gereinigt werden“ (Sinngemäß). Über eleos und phobos – eben jammern und schaudern – redet er auch. Dieses reinigen (Reinigung = Katharsis) wird sonst leider so gar nicht mehr erwähnt. Vielleicht in einem anderen Werk? Nein! Er spricht nie ausdrücklich von dieser Katharsis. Alles was davon im Umlauf ist, ist das was die Renaissance ihn in den Mund gelegt hat, was Lessing dann so falsch korrigiert hat, und was auch die aktuelle Forschung als „Reinigung des Körpers“ bezeichnet. Man geht davon aus, wenn man seine anderen Schriften berücksichtigt und rekonstruiert wie Mr A. so drauf war, dass es eine Affektentladung sein soll. Jap, Katharsis geht in die Schublade „lies my teachers told me (1) “.
Hier will ich jetzt von einer Katharsis sprechen, die sich an keinem der gängigen Begriffe orientiert, sondern ganz einfach von einer Reinigung der Gefühle. Ja, der germanistisch gebildete Leser erkennt Zusammenhänge zu einer bekannten Auffassung des Begriffs, aber ich will es bewusst nicht in eine Schublade werfen, um es nicht zu mehr oder weniger zu machen als es ist. Eine Säuberung von allen angestauten Gefühlen.
In unserem Leben gibt es viele Gründe seine Gefühle nicht immer offen zu zeigen. Ich will jetzt aber gar nicht altklug daherreden, sondern nur die Basis aufzeigen, von der mein folgendes Geschwafel ausgeht. Ich behaupte, dass wir – vielleicht nur unterbewusst – viel zu viel anstauen. Vielleicht aus den richtigen, vielleicht aus den falschen Gründen. Dazu kommt noch das konstante Unterdrücken von Wünschen, Träumen und diesem ganzen anderen emotionalen Unsinn, den natürlich nur Frauen haben. Wenn wir nach dem obligatorischen, langen Arbeitstag in unser gemütliches Sofa sinken, dann sind wir voll bis obenhin mit Flüssigkeiten ,die raus müssen! Das sind Tränen der Freude, Tränen des Leides. Das sind unausgesprochener Frust und unverbrauchtes Sperma. Das sind das Seufzen der schweigenden Liebe und das Schreien des stillen Hasses. Jetzt sitzen wir in unserem Kämmerchen des Schreckens und sehen herzergreifende Momente in dem Leben fiktiver Gestalten. Ich setze hier voraus, dass wir inzwischen alle kleine Voyeure sind. (2) Wir finden es unglaublich interessant in das Leben anderer Menschen zu schauen. Dann müssen wir uns nicht vor den echten Spiegel (3) stellen und uns selbst ansehen. Sieht man sich Fernsehen an, so ist es in fast allen Folgen einer beliebigen Sitcom der Fall, dass ein Protagonist sein eigenes Problem in der Geschichte eines anderen wieder findet. Wir Zuschauer sehen das und finden es vielleicht ungeschickt, vielleicht raffiniert. Selten genug kommen wir auf die Idee genau das selbst zu tun. Aber all das nur am Rande. Wir sehen durch den Schaukasten in das Leben eines anderen und können hier zum ersten Mal völlig Konsequenzen frei unsere Gefühle zum Ausdruck bringen.
Wir können heulen, wenn Folgen mit schönen Namen wie „What you leave behind“ eine großartige Serie beenden. Wir könnten auf die Knie fallen, wenn Spike am Ende der siebten Buffy Staffel seine Ruhe bekommt oder eine Staffel später in Angel mit dem einfachen Satz „There is a whole in the world“(4) über den tragischen Tod einer Freundin alles anspricht, an dem wir nichts ändern können. Wir weinen, wenn sich die Crew der Galactica in ihrer neuen Heimat verliert und Adama mit seiner sterbenden Begleiterin über die Erde gleitet. (5) Unser Herz springt hoch, wenn Ross Rachel bekommt, egal wie falsch und käsig diese Geschichte die ganze Zeit über war. Dasselbe gilt für Chuck und Sarah. (6) Wir schreien, wenn Ronald D. Moore und David Eick Cally aus der Luftschleuse werfen lassen, von Tory, dieser VERF–Ich hätte gute Lust noch lange so weiter zu machen, aber ich denke ihr habt verstanden was ich meine, bevor ich damit begonnen habe Serien zu spoilern. Aber fühlt euch frei eure Affektentladungsmomente zu ergänzen.
Jetzt haben wir also dieses göttliche Geschenk des Mitgefühls bekommen, können es aber nur auf andere anwenden – ich bleibe im Kontext des Fernsehens, will aber den Raum lassen dieses Konzept auf andere Bereiche des Lebens zu übertragen. Das Bild der besorgten Freundin, die vor lauter Mitleid den Scheiß in ihrem eigenen Leben nicht mitbekommt ist sicher geläufig. – und das aus Gründen, für die ich mich nicht berufen fühle. Wir können das Schöne sehen, das Grausame fühlen und umgekehrt, aber wir tun es oft nicht an unserer eigenen Person. Die Selbstreflexion wäre zu viel.
Vielleicht hängt damit die Abwesenheit von Liebe in unserer Gesellschaft (7) zusammen. Das ist natürlich nur eine völlig wilde Vermutung. Es kann tausend andere Gründe geben, wieso wir so viel stärker auf die Fiktion reagieren als auf die Realität. Die Fiktion hat ja auch immer den Vorteil die Augen des blindesten Rezipienten auf ein Objekt richten zu können. Mir fallen noch einige andere Ideen dazu ein, aber mir gefällt die hier irgendwie. Das eigene Leben hemmt unseren Ausdruck, und darum projizieren wir ihn da hin wo wir ihn verwenden können(dürfen?).(It´s all about projection lately.Too much cylons or too much Frasier?)
Eventuell ist es auch andersrum. Wir warten nicht darauf es an einem geeigneten Ort zu verbrauchen, sondern verbrauchen es hier, bevor wir in unserer physikalischen Realität(8) dazu kommen. Das wäre tragisch und, wenn ich nach all dem Battlestar und den vielen Serienfinalen noch Tränen übrig hätte, würde ich darum weinen.
Übrigens beschränkt sich das auch nicht nur auf Gefühle. Viele andere Dinge sind in einem Bildschirm auch intensiver. Nichts ist zum Beispiel so erotisch wie eine gut inszenierte Frau. (9) Keine Frau versteht es in der Realität die Blicke eines Mannes wirklich zu lenken, wie eine Kamera es kann. Und das alles obwohl ein erotischer Moment im Fernsehen viel kürzer ist als die meisten erotischen Begegnungen (10) der Wirklichkeit.
Was können wir also von dieser Ansammlung von Gedankenmüll heraus nehmen? Ich denke viele würden zustimmen, wenn ich einfach nur die These aufstelle, dass Tragik außerhalb unseres direkten Lebens einen viel größeren Affekt (11) hat als unsere persönliche Geschichte. Woran das liegt, weiß ich nicht wirklich. (12) Ich bin mir aber sicher, dass es nicht gesund sein kann. Oder dass es sehr gesund ist und wir darum Dinge wie Bücher und Serien oder von mir aus Promiklatsch dringend brauchen, damit der ganze Scheiß aus dem System kommt.
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1. Anderes in der Schublade: „Autorenintention“, „Nach der Aufklärung kam die Weimarer Klassik“ und „Faust ist das Beste was die deutsche Literatur zu bieten hat“. In der Schublade nebenan liegen Dinge wie: „Du bist einzigartig wie eine Schneeflocke“, „Du kannst alles schaffen was du willst!“ und „Ich liebe nur dich.“
2. Ausnahmsweise habe ich hier echte medienwissenschaftliche und natürlich soziologische Thesen, die mir den Rücken stärken. Eine tiefe Erkenntnis ist das natürlich auch nicht, wenn man sich alleine den Inhalt des Privatfernsehens so ansieht. Von dem was wir so „Klatsch“ nennen, will ich gar nicht anfangen.
3. An dieser Stelle sei bemerkt, dass diese Art der Realitätsflucht, genau genommen der Flucht vor der Selbstreflexion zu der Reflexion anderer, ein eigenes Gebiet ist. Wäre ich ein Crane, würde ich hier anfangen zu forschen.
4. Fans wissen: Die letzte Angelstaffel macht die ganze Serie sehenswert.
5. Egal ob uns das Ende der Serie passt oder nicht.
6. Korrektur: Würde gelten, wenn Hanna nicht alles verdorben hätte.
7. Ich rede jetzt von der kleinen Gesellschaft des Privatmenschen. Alle Übertragungen auf die soziologische Gesellschaft sind willkommen.
8. „Phyikalische Realität meint die Realität, die nicht fiktiv ist. Ja, ich fahre damit die Semantik über den Haufen und behaupte, dass auch Fiktion real sein kann.
9. Männerperspektive!
10. Ein Instinkt sagt mir, ich soll an dieser stelle einen schmutzigen Witz über premature ejaculation machen. Ich will aber davon absehen.
11. Ich verwende absichtlich „Affekt“ und will betonen, dass für den „Effekt“ wohl das Gegenteil gilt.
12. Und dafür habe ich ganz schön lange geredet. Kluge Leser könnten auf die Idee kommen, dass ich nur schreibe, um meine eigenen Worte zu lesen. Diese Theater und Medien-Studenten sind eben alle gleich. Es geht immer nur um Selbstinszenierung.
Ich habe lange darüber nachgedacht, viel diskutiert, aber in Wahrheit können wir sie nicht endgütltig klären. Dabei wäre die Antwort doch so nützlich!
Ist es alles tatsächlich ein Katalysator für die eigene Reinigung? Für die Lösung von Affekten? Also eine Reinigung von der Realität, damit wir mit ihr besser klar kommen?
Oder ist es die echte Realitätsflucht? Das was die Killers in „Tranquilize“ so schön besungen haben, die Betäubung, die uns emotionslos macht? Dann wäre die Folgefrage die du stellst, nämlich „Wieviel Flucht ist gesund?“ auf jeden Fall wichtig, vor allem für Leute unseres Faches.
Es ist wohl eini gewisse naive Hoffnung, die mich dazu bringt mich persönlich für die erstere Lösung zu entscheiden. Wenn wir bei jedem traurigen Fall in der Realität sprichwörtlich in Tränen ausbrechen, wäre das unpraktisch, und vielleicht können wir „gereinigt“ ja etwas vernünftiger an unser Leben angehen – wenn wir es eben nicht zuplomben, mit deine Variante.
„Wir können das Schöne sehen, das Grausame fühlen und umgekehrt, aber wir tun es oft nicht an unserer eigenen Person. Die Selbstreflexion wäre zu viel.“ Aber ist das nicht auch die Schuld des Fernsehens? Ist nicht die Flut an seichten Geschichten daran Schuld, dass wir weder in der Lage noch dazu gewillt sind uns mit der Komplexität unseres eigenen Lebens auseinander zusetzen? Ich komme nicht zu dem Schluss, dass „wir darum Dinge wie Bücher und Serien oder von mir aus Promiklatsch dringend brauchen, damit der ganze Scheiß aus dem System kommt“ , sondern dass wir diese Dinge nur wollen um den Scheiß zu verdrängen und unser System zu betäuben.
Die Selbstreinigung kann nur funktionieren, wenn man sich die Zeit nimmt sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ich möchte nicht abstreiten, dass man seinen höchsteigenen Weltschmerz auf einen Protagonisten einer Serie, eines Films oder eines Theaterstückes projezieren kann und somit den Freiraum gewinnt, sich tatsächlich mit seinem Leben auseinander zusetzen. Aber ich glaube, dass dieser letzter Schritt „Facing The Reality“ aufgrund eines Übermaß an Fluchtmöglichkeiten in fiktive Welten schlichtweg (in den meisten Fällen) nicht stattfindet. Wieso sollte man sich auch die Mühe machen, wenn es doch für jede Bildungsschicht genug Formate und Sender gibt, um sich am Leid andere zu ergötzen. Ich glaube die Kernfrage die sich zumindest mir nach dem Artikel stellt ist: Wieviel Medienkonsum ist eigentlich gesund?