Ein dünner Mann mit dunklen Locken und einer Mundharmonika begleitet mich durch mein Leben, seitdem ich 15 bin. Ich habe ihn stets gerne in mein Leben gelassen, die Klänge seiner Mundharmonika mein Innerstes erfüllend. Ich habe ihn Teil meines Lebens werden lassen, ihn zum täglichen Begleiter erkoren, Stunden über Stunden mit ihm verbracht, mich in seiner Musik verloren, und all dem dabei eine zugegebenermaßen recht große Bedeutung für mich und mein Leben zugesprochen. Kurzum: Ich bin Fan von Bob Dylan, seitdem ich selbstbestimmt Musik höre.

Jedoch, und das ist entscheidend in meiner Beziehung zu Bob Dylan und seiner Musik, habe ich sie immer mit einer gewissen Distanz erfahren. Bob und mich trennte ein nebulöser Schleier, der ihn mir wie einen Geist erschienen ließ, nicht wie einen Menschen, der zur gleichen Zeit wie ich auf dieser Erde wandelt. Gut, Bob Dylans musikalischer Durchbruch gelang ihm Anfang der 1960er Jahre und damit schlappe 40 Jahre vor meiner Geburt, den Zenit seiner Popularität als Stimme der Studentenbewegungen gegen den Vietnamkrieg erreichte er im selben Jahrzehnt, und dennoch reicht sein künstlerisches Schaffen bis in die Gegenwart. Ganze 40 Alben hat Bob Dylan seit 1962 veröffentlicht, sein neuestes, Shadow Kingdom, im Jahr 2023. Ich würde mich jedoch vor allem als Liebhaber seines Frühwerks bezeichnen. Alben wie The Freewheelin’ Bob Dylan, Another Side Of Bob Dylan, Bringing It All Back Home, Blonde on Blonde, und allen voran Highway 61 Revisited haben meinen Musikgeschmack, meine Ansichten, ja mich geprägt. Mit variierender Regelmäßigkeit höre ich sie immer und immer wieder. Dylans Texte, oft überladen mit Referenzen und Querverweisen auf die (amerikanische) Geschichte, auf Literatur, Populärkultur und die Bibel, brachten ihm 2016 einen Literaturnobelpreis ein.

Mein Bild von Bob Dylan, das seit nunmehr sechs oder sieben Jahren in meinem Kopf heranwächst, wird durch die Vielzahl an Memes und popkulturellen Referenzen, die den Künstler umschwirren, komplettiert. Ein TikTok-Trend, bei dem Bobs Gangart auf dem Cover von The Freewheelin‘ Bob Dylan nachgeahmt wird, Aufnahmen von Bob und den Beatles, die durch YouTube einen Weg in die Öffentlichkeit finden, Ausschnitte seiner legendär halbherzigen Teilnahme an „We Are the World“ 1985, Bobs Aussehen und seine Texte als Grundlage für Memes, die sich dem Humor der Gen-Z überraschend gut fügen. All das trägt dazu bei, dass sich das Bild, das ich von einem meiner Lieblingskünstler habe, immer weiter von der realen Person dahinter entfernt. Denn: Bob Dylan lebt – und ich bin auf eines seiner Konzerte gegangen.

Genauer gesagt auf ein Konzert seiner Rough and Rowdy Ways World Wide Tour, einer weltweiten Konzerttournee anlässlich des gleichnamigen Albums aus dem Jahr 2020, die ihn seit Herbst 2024 nach Europa, in meinem Fall ins malerische Erfurt, geführt hat. Ich hatte Vorbehalte, besonders weil ich einen Einsturz meiner Vorstellung des Musikers befürchtete. Und dennoch trat ich – mit gemischten Gefühlen in meiner Brust und Rough and Rowdy Ways in meinen Ohren – meine Reise Richtung Erfurt an. Schon bei der Buchung des Tickets wurde darauf hingewiesen, dass während des Konzerts absolutes Handyverbot gelte. Tatsächlich musste ich beim Einlass mein Handy in eine Tasche geben, die verschlossen wurde und die ich erst nach dem Konzert wieder öffnen lassen konnte. An dieses Konzept könnte ich mich jedoch gewöhnen, die völlige Abwesenheit von Mobiltelefonen zollt der Einmaligkeit der Aufführungssituation gebührenden Respekt. Ich lasse mich auf einem der Sitzplätze nieder, noch strömen die Menschen in die Messehalle. Nach und nach füllt sich der Saal, und dann – völlig unvermittelt – wird der Bühnenraum von einigen Scheinwerfern illuminiert. Die Band beginnt zu spielen, zögerlicher Applaus setzt an, es dauert einige Zeit, bis ich und alle anderen Konzertbesucher*innen begreifen: Das ist Bob. Ein alter Mann, so tief in die Tasten gebeugt, dass er hinter seinem Klavier kaum erkennbar ist. Der Applaus steigert sich, und es bricht eine kollektive Hektik aus, denn: Noch lange nicht alle haben ihren Sitzplatz gefunden.

Wenn mich eines an Bob Dylans Auftritt fasziniert und umgetrieben hat, dann wohl sein Umgang mit dem Publikum. Dieser ist geprägt von tiefer Bescheidenheit und Demut sowie gleichzeitiger nahezu ignoranter Gleichgültigkeit. Bob lässt kaum einen Applaus zu, sofort setzt die Band zum nächsten Song an, keine Begrüßung, kein Small Talk. Ganze zwei „Thank You“s murmelt Bob im Laufe des Konzerts in sein Mikrofon. Dabei beginnt das Konzert mit zwei nahezu anbiedernd wirkenden Publikumslieblingen: All Along the Watchtower und It Ain’t Me Babe erklingen als Opener, ehe sich Bob seinem Album Rough and Rowdy Ways (das ich übrigens für ein sehr gelungenes halte) widmet. Auffallend bescheiden ist auch die Bühnengestaltung: Ein paar Scheinwerfer, ein roter Vorhang, das war’s. Keine Leinwand, keine Lightshow, nichts. Es wirkt, als würde Bob keinerlei Aufsehen um seine Person erregen wollen, am liebsten selbst nicht auf der Bühne stehen müssen. Seine Erscheinung verweigert sich dem Bild, das ich von ihm habe, aufs Extremste. Der Fokus liegt klar auf seiner Kunst, nicht auf seiner Person. Bob Dylan ist kein Held, kein Star – und er möchte auch keiner sein. Diese Verweigerung geht jedoch auch mit einer Überhöhung einher, und der Frage, ob man sich als Künstler denn wirklich so einfach seinem Publikum verwehren kann. Und das trägt auf interessante Weise stark zu meinem geisterhaften Bild von Bob Dylan bei, der mir – trotz weniger Meter Entfernung – aufgrund meiner Kurzsichtigkeit weiterhin wie hinter einem Schleier verborgen erschien. Wäre Bobs Gesicht das Konzert über auf eine metergroße Leinwand projiziert worden, wäre das sicher anders gewesen. Sein Gesang, der über die Jahre ohnehin kontrovers diskutiert wurde, ist mit nunmehr 83 Jahren mehr zu einem mal mehr mal weniger rhythmischen Sprechgesang geworden. Musikalisch wird dies von der Band jedoch auf exzellente Weise aufgefangen, die vielen Songs mit einem klassischen, dreckigen Blues-Sound einen neuen Anstrich verpasst. Tatsächlich unterscheiden sich die Lieder live so stark von ihren Albumversionen, dass ich sie teilweise nur anhand der Songtexte erkennen konnte. Nach einigen aktuellen Songs wie I Contain Multitudes, Black Rider, und False Prophet spielt Bob etwa zur Hälfte des Konzerts zwei Klassiker, von denen mich einer besonders berühren sollte. It’s All Over Now, Baby Blue vom 1965 erschienenen Bringing It All Back Home erhält den längsten und lautesten Applaus des Konzerts, mich allerdings trifft ein anderer Song noch stärker: Es kostet mich wieder einige Zeit, um die stark abgewandelte Version des Lieds zu entschlüsseln, doch als Bob zu singen beginnt, wird mir klar, dass ich mit Desolation Row gerade einen Song von meinem absoluten Lieblingsalbum Highway 61 Revisited höre. Ausgerechnet den Song, den der 15-jährige Lorenz beim Hören des Albums immer übersprungen hatte, weil er ihm zu langsam und unnötig lang erschienen war. Wenn es einen Moment während des Konzerts gab, in dem mein inneres Bild von Bob Dylan sich bestätigte, einen Moment, in dem der Mann da vorne auf der Bühne wirklich der Bob Dylan war, den ich auf all diesen Alben gehört hatte, dann war es der, in dem er mit den Worten „They’re selling postcards for the hanging“ Desolation Row anstimmte. Oder als er zum ersten Mal unter begeistertem Applaus des Publikums seine Mundharmonika zu einem Solo ansetzte.

So plötzlich wie Bob das Konzert eröffnet hatte, beendete er es auch. Ein letzter Song, ich weiß nicht mehr welcher, dann gehen die Scheinwerfer auf der Bühne aus, die Menge erhebt sich zum begeisterten Applaus, Bob und seine Band verlassen die Bühne, der Applaus hält an, solang, bis in der Messehalle die Lichter angehen. Dieser Mann spielt keine Zugabe, er verabschiedet sich nicht einmal. Er als Person hat seinem Publikum nichts zu sagen. Er hätte das gleiche Konzert auch vor einem leeren Saal gespielt – oder vor einem Saal voller Schweine. Und das sage ich so voller Liebe und Bewunderung, wie man diesen Satz nur sagen kann.

Ich verlasse den Saal, lasse die Tasche mit meinem Handy wieder öffnen, und denke über das eben Erlebte nach. Habe ich gerade wirklich Bob Dylan gesehen? So einfach diese Frage erscheinen mag, ich habe bis heute keine Antwort darauf gefunden.