Toronto, Sundance, Berlinale, Cannes – die Weltpremieren überlässt das Münchner Filmfest den großen Prestigefestivals, um sich dann das Beste aus der Saison herauszupicken: Leviathan gewann den Drehbuch-Preis in Frankreich? Gekauft! Jonathan Glazers Sci-Fi-Experiment wird seit TIFF als betörender Geheimtipp gehandelt? Her damit! Ob die Auswahl tatsächlich so impulsiv abläuft, darf bezweifelt werden, als Besucher kann man sich aber jedes Jahr auf eine treffliche Selektion freuen, ohne von Journalisten-Heerscharen überrannt zu werden. Wo man für Web-Tickets zur norddeutschen Bären-Veranstaltung rechtzeitig Wecker und Countdown stellen muss, hat man in München auch als spätzündender Filmfan eine Chance, seinen Programmplan zu organisieren. Neben international bereits anerkannten Filmkunst-Highlights gibt es diesmal zudem eine allumfassende Retrospektive des Spätwestern-Meisters Walter Hill in erhabener 35mm-Projektion zu bestaunen; Entdeckerfreudige werfen einen Blick auf die 13 für den CineVision Award nominierten Independent-Produktionen. Am Eröffnungswochenende konnte ich mir etliche Filme ansehen, von denen ich euch fünf vorstellen möchte, deren Kinostart man unbedingt im Auge behalten sollte.

Leviathan

Russlands Politik wird nun schon seit mehreren Monaten lauthals in den Medien kritisiert – Korruption, Machtwahn und Ausbeutung sind Inhalt der nicht enden wollenden Vorwürfe. Nur wenige hinterfragen die einseitige Berichterstattung. Umso interessanter ist es also, wenn der gebürtige Sibirer Andrey Zvyagintsev mit seinem neuesten Film ebendiese Themen aufgreift und sie aus der Sicht einer russischen Arbeiterfamilie beleuchtet. Beziehungsweise unterbelichtet, denn Leviathan ist eine äußerst düster fotografierte und erzählte Tragödie, deren Figuren so rau und erodiert wie ihre Heimat an der Barentssee sind. Protagonist Kolja bewohnt mit seinem Sohn und dessen Stiefmutter ein generationenüberdauerndes Haus in einem Fischerdorf, das den Forderungen des Bürgermeisters zufolge abgerissen und durch eine prunkvolle Heiligenstätte ersetzt werden soll. Stur macht sich der Handwerker mit einem befreundeten Anwalt daran, dem politischen Tyrannen, der archetypischen Gangster-Bossen alle Ehre machen würde, rechtliche Steine in den Weg zu legen. Dass sie zum Scheitern verurteilt sind, steht von Anfang an zweifelsfrei fest. Interessant ist vielmehr, wie Zvyagintsev mit Erwartungen spielt, wozu auch der bissig schwarze Humor seinen Teil beträgt. Als zu Beginn des Films ein nächtlicher Streit zwischen Anwalt, Bürgermeister und Kolja (alle drei stockbesoffen) eskaliert, stürzt dieser wutentbrannt in sein Haus zurück, während die Kamera auf dem besorgten Rechtsexperten ruht. Narrativ geschulte Zuschauer warten nur noch darauf, dass der Hausbesitzer mit einer Waffe zurückkommt, den korrupten Politiker erschießt und daraus dann das Drama herrührt. Stattdessen aber ebbt die Situation ab, und wir sehen, wie Kolja mit Gewehr in der einen und Vodkaflasche in der anderen Hand desillusioniert drinnen am Küchentisch verharrt. Mag der Alkoholismus anfangs noch wie ein ausgetretenes russisches Klischee anmuten, wird innerhalb der zweieinhalb Stunden Laufzeit deutlich, dass dies Teil einer viel tiefer gehenden Traditions- und Moralkritik ist. Der Autorenfilmer Zvyagintsev zeichnet mit bedrückender visueller und erzählerischer Sprache ein vernichtend pessimistisches Bild einer selbstsüchtigen Gesellschaft, schafft es jedoch auch, der restlichen Welt in seinem beinahe unerträglich zynischen Epilog einen Spiegel unserer eigenen Scheinheiligkeit vorzuhalten.
Leviathan wurde vom deutschen Verleih Wild Bunch Germany gekauft, die einen Kinostart in der zweiten Jahreshälfte versichern.

Palo Alto

Zynische Zungen würden dem Produktionsteam von Palo Alto schamlose Dynastiebildung vorwerfen. James Franco veröffentlicht 2010 eine Kurzgeschichtensammlung, teilweise basierend auf eigenen High-School-Erfahrungen, und wählt dann Regie-Debütantin Gia Coppola, Enkelin von Francis Ford Coppola und Nichte von Sofia Coppola, um sein Buch zu verfilmen. Besetzt wird der Film mit Franco selbst, der als Sportlehrer seine Schülerin April, gespielt von Julia Roberts Nichte Emma Roberts, verführt. Val Kilmer spielt ihren bekifften Vater (und gewissermaßen sich selbst), und sein Sohn Jack Kilmer übernimmt nicht nur den Part der männlichen Hauptrolle, sondern steuert auch ein Stück zum Soundtrack bei, zu dem ebenso Songs von Darsteller Nat Wolff und Musiker Robert Coppola Schwartzman gehören. In einer der Nebenrollen wurde noch Gias Cousin 2. Grades, Baily Coppola, besetzt. Fazit: Um einen erfolgreichen Start in Hollywood zu haben, hilft es, wenn dein Opa für The Godfather verantwortlich war, oder dein Papa Jim Morrison verkörperte. Richtig? Naja. Palo Alto ist vor allem ein guter Film, ganz egal, wer welche Beziehungen hat spielen lassen, der eine Natürlichkeit ausstrahlt, wie sie vielleicht wirklich nur durch die Familiarität hinter der Kamera zustande kommen konnte. Wer mit etwas abseitigeren Coming-of-Age-Storys vertraut ist, wird sofort Einflüsse von Filmen wie The Virgin Suicides und Kids wiedererkennen, zumal letzterer mit einer Pool-Szene direkt referenziert wird. Wie in den Vorbildern wird hier gleichrangig eine Geschichte von Mädchen und Jungen erzählt. Die simpel gehaltene Rahmenhandlung zusammenzufassen, würde Palo Alto wahrscheinlich keinen Gefallen tun, da es eher ein Werk ist, das von seinen einzelnen Momenten lebt. Das absurd hohe Maß an Verantwortung, mit dem sich Schüler in ihrer Oberstufen-Zeit konfrontiert sehen, ist eines der übergreifenden Themen und manifestiert sich in mal mehr und mal minder offensichtlichen Beispielen. Menschen in ihrer emotional fragilsten Phase des Lebens Autofahren zu lassen, ist noch eines der deutlichsten Exempel. Dabei beherrscht Gia Coppola jedoch bereits genug Feingefühl, um zu keiner Zeit aufdringlich didaktisch zu wirken. So kann April eine Diskussion mit einem Jungen über die Abstinenz von coolen Frauenrollen in Videospielen haben, ohne dass sich der Zuschauer von einem lehrhaften Vorschlaghammer überrumpelt fühlt. Jeder Charakter handelt für sich nachvollziehbar, sodass eine auktoriale Agenda nie in den Vordergrund tritt. Wenn sich April auf eine Beziehung mit ihrem Sportlehrer einlässt, hat das klare Gründe, die wiederum unumgänglich in die Hauptthematik des Films hineinspielen. Lediglich die ästhetische Aufbereitung, insbesondere die Wahl der Kameraperspektiven, wirkt ein wenig zu formelhaft, was ironisch ist, da die Jungregisseurin zuvor ihr Cinematography-Studium abschloss – oder vielleicht ist genau das der Grund? Manche Einstellungen geht sie so frontal an, dass sie fast schon tiefenlos zweidimensional anmuten. Insgesamt ist Palo Alto aber ein voller künstlerischer Erfolg, der ehrlich von jungen Menschen über junge Menschen erzählt, die Komplexität des Teenager-Daseins erfasst und beweist, dass High-School-Filme mehr als sexistische Party-Exzesse sein können.
Palo Alto hat noch keinen deutschen Verleih gefunden, ist aber ab 5. August über VOD verfügbar (iTunes US).

Under the Skin

Jonathan Glazers ekstatischer Science-Fiction-Film ist bizarrerweise eine Romanverfilmung. Fragt man sich bei narrativ verschachtelten Büchern wie Cloud Atlas noch, wie sich dies je für einen Film adaptieren ließe, ist bei Under the Skin genau das Gegenteil der Fall: Wie kann dieser Bilderreigen je ein Roman gewesen sein? Der britische Regisseur hat sich nur lose an der Vorlage orientiert und lediglich die Idee des männerfressenden Alien übernommen. Bereits die ersten Minuten sind so mysteriös, dass man als Zuschauer nur erahnen kann, was passiert. Mit meisterhafter Mikrophotographie wird gezeigt, was gleichzeitig (!) die Zusammensetzung eines Auges, der Urknall oder die Landung eines Raumschiffs darstellen könnte. Auf auditiver Ebene vernimmt man die ersten phonetischen Gehversuche der Hauptfigur, verkörpert von einer brillant apathischen Scarlett Johansson, was mit einer Musik unterlegt wird, die in abstrakter Form 2001s dissonante Klanglandschaft mit dem ikonischen Crescendo von Jaws kombiniert. Was in den nächsten 90 Minuten folgt, könnte als innovatives Experiment beschrieben werden, wobei dies die Möglichkeit des Scheiterns impliziert, und somit nicht auf den auf ganzer Linie gelungenen Film zutreffen kann. Die Hälfte der Spielzeit verfolgen wir, wie das Alien durch schottische Städte streift und sich mit seiner Außenseiter-Perspektive die Gewohnheiten der Menschheit aneignet, um sie zum Umschmeicheln und Anlocken von Männern zu nutzen. Dabei wurden viele Szenen mit versteckter Kamera gedreht; nicht nur die Passanten sind echt, sondern sogar die unwissenden Ziele ihrer Flirtversuche. Trotzdem sind auch diese Momente mit solch künstlerischer Integrität fotografiert, dass man nie den Eindruck eines albernen Comedy-Sketches hat. Thematisch ist Under the Skin gleichermaßen sowohl einfach zu interpretieren als auch unmöglich punktgenau festzumachen. Was allein schon die Prämisse suggeriert, ist eine Umkehrung des „male gaze“, also die Objektifizierung der Frau durch den Mann, wobei es hier dann eben die Objektifizierung des Mannes durch das Alien ist. Desweiteren zeichnet Jonathan Glazer ein hoffnungsloses Porträt unserer Spezies, stellt unser animalisches Verhalten bloß, und fragt, ob Liebe aufgrund ihrer inhärenten Machtspiele überhaupt möglich sei. Ein Plädoyer für die Einsamkeit und vermutlich Lars von Triers neuer Lieblingsfilm. Wer gedacht hatte, das Kino könne einer außerirdischen Fish-out-of-Water-Story seit Nicolas Roegs The Man Who Fell to Earth nichts mehr abgewinnen, muss sich Under the Skin ansehen. Und alle anderen ebenso.
Under the Skin wurde vom Senator Filmverleih gekauft, der sich jedoch gegen einen Kinostart entschied, weil der Film nicht ans deutsche Publikum vermarktbar sei. Auf dem Fantasy Filmfest hat man im September noch einmal die Chance, Under the Skin auf der großen Leinwand zu sehen, bevor er eine Woche später via DVD und Blu-ray verramscht wird. Mehr zum Skandal hier.

Das Salz der Erde

Fotographie-Interessierte kommen um die Aufnahmen Sebastião Salgados nicht herum. Der 70-jährige Brasilianer bereist seit 1973 die Kontinente, um die Welt in Bildern festzuhalten. Seine Aufnahmen reichen von erschlagender Schönheit (Fotoserie „Genesis„) bis Übelkeit erregende Grausamkeit (Rwandanischer Genozid). Er ist ein Mann, der scheinbar alle Facetten der Natur erlebt und festgehalten hat. Sein Sohn Juliano Ribeiro Salgado, selbst Filmemacher, musste größtenteils ohne seinen Vater aufwachsen und entschied sich schließlich, Sebastião auf einer seiner Reisen dokumentarisch zu begleiten. Als Kollaborateur bot sich Wim Wenders an. Entstanden ist eine Dokumentation, die sowohl Porträt eines weltbegeisterten Abenteurers als auch Porträt der menschlichen Verfassung und ihrer Auswirkung auf ihr Umfeld ist. Wenders führt uns mit seinem Voice-Over, das mit kindlicher Faszination an seine Hauptfiguren aus Paris, Texas und Der Himmel über Berlin erinnert, in den Fotowelten Salgados ein. Wir sehen den Fotographen bei der Arbeit, wie er Eisbären und ringenden Walrössern auf der Lauer liegt. Über die kämpferische Natur der Tiere wird weitergeleitet zu den Krisenherden, die Salgado in den 80ern und 90ern aufnahm. Die (Aussage-)Kraft seiner Bilder lässt sich nur schwer in Worte fassen, die gewaltigen Kompositionen sprechen Bände. Folgerichtig besteht Das Salz der Erde zu großen Teilen aus Fotos, die für die Dokumentation aus den originalen Negativen sorgfältig für die großflächige Projektion restauriert wurden. Entfernt wird Chris Markers La Jetée evoziert, nur das hier anhand von Einzelbildern keine spezifische Story, sondern die ganze Menschheitsgeschichte der letzten 40 Jahre erzählt wird. Es ist den Dokumentarfilmern hoch anzurechnen, dass die Bilder aufgrund ihrer Grandiosität nicht paralysieren, sondern dank klugen Schnitten tief berühren.
Der Kinostart ist auf den 30. Oktober datiert.

Wie der Wind sich hebt

Hayao Miyazaki, Regisseur und Co-Gründer der japanischen Animations-Schmiede „Studio Ghibli“, beendet seine Karriere mit einer filmischen Liebeserklärung an die Kunst, Träume und deren Verwirklichung – vor der Kulisse des zweiten Weltkriegs. Wie der Wind sich hebt erzählt die romantisch-fiktionalisierte Lebensgeschichte des Flugzeug-Ingenieurs Jiro Horikoshi, berüchtigt für seinen Entwurf der Mitsubishi A6M Zero, die beim Angriff auf Pearl Harbor verheerenden Schaden anrichtete. Folglich sorgte der Anime beim US-Kinostart für großen Aufruhr und die Presse kritisierte, er würde die Gräueltaten Japans verharmlosen. Das ist natürlich völliger Unfug, denn nicht nur steht Miyazaki seiner Regierung verhältnismäßig skeptisch gegenüber, sondern ist sich auch der Aussage seiner Werke genauestens bewusst, wobei mittlerweile der Unterschied zu seinem Umweltbewusstseins-Lehrstück Prinzessin Monoke darin besteht, dass er subtiler geworden ist. Protagonist Jiro, dessen Geschichte Biopic-artig verfolgt wird, ist ebenso Künstler und Genie wie er Egoist ist. Die erste Traumsequenz symbolisiert seine Sehnsucht zu fliegen und endet mit einem Bomberangriff. Als er Nazideutschland besucht, hat er nur Augen für die Wehrmachtsflugzeuge und ignoriert den Rassismus, der ihm trotz der Länderkooperation entgegen kommt. Als seine Verlobte einen Schicksalsschlag erleidet, denkt er vorrangig an sich. Jiro ist kein strahlender Zeichentrickheld, dem das Publikum nacheifern soll, aber er ist ebenfalls kein typischer Schurke, weil seine künstlerischen Ambitionen zutiefst empathisch und mit viel Einfallsreichtum vermittelt werden. Als sein Idol Giovanni Caproni im Traum fragt, ob man lieber in einer Welt ohne Pyramiden leben sollte, bleibt die Frage offen. Vermutlich haben die Wenigsten damit gerechnet, dass ein Animationsfilm Ambivalenz beherrscht, was aber nicht wirklich Problem des Films sein kann, sondern eher für eine Diskussion über Zielgruppe und Formwahl sorgen sollte. Ausschließlich für Erwachsene ist Wie der Wind sich hebt dann aber doch nicht, da in einem Studio-Ghibli-Werk skurrile Figuren selbstverständlich nicht fehlen dürfen. Obwohl sich das bei einem realen Szenario wie hier schwieriger gestaltet als bei Fantasy-Märchen wie Chihiros Reise ins Zauberland oder Mein Nachbar Totoro, da man nicht einfach Kuschelmonster einfügen kann, finden die Zeichner trotzdem einen Weg. Der italienische Flugzeugbauer Caproni wird beispielsweise mit einem sympathischen Schnurrbart und albernen Hut ausgestattet. Und in einem Berghotel trifft Jiro auf einen mysteriösen Deutschen mit grenzwertiger Hakennase. Der wird in der englischsprachigen Fassung auch noch von Arthouse-Legende Werner Herzog vertont und wenn man seinen Lieblings-Fatalisten schon immer mal singen hören wollte, kommt man um The Wind Rises sowieso nicht herum.
In Deutschland startet Miyazakis letztes Meisterwerk am 17. Juli.

Das Filmfest läuft noch bis Samstag den 05.07.