Vor etwa 10 Jahren setzte der Vampir-Hype unserer Generation ein (wodurch, wissen wir ja alle). Er brach Harry Potter Zacken aus der Krone und bereitete dem Höhenflug von Eragon ein jähes Ende. Seitdem werden wir überschwemmt mit sensiblen, glitzernden Vampiren, die in Sportwagen fahren, Smartphones bedienen und Blut aus Whiskeygläsern trinken. Ich wollte wissen, wie der ganze Unfug begann und habe deshalb den Vater der untoten Kreaturen gelesen: Bram Stokers „Dracula“.
In irgendeiner Form kommt sicher jeder in seinem Leben mit einer Version dieser Geschichte in Berührung, weshalb ich nur kurz die wichtigsten Figuren vorstellen will, da die Grundthematik klar sein dürfte.
1. Jonathan Harker: Ein junger Jurist, der Graf Dracula ein großes altes Haus in London verkaufen will und ihm dadurch „hilft“, ins London des 19. Jahrhunderts zu kommen. Verlobt, später verheiratet mit:
2. Mina Murray: Kluge, einfühlsame Frau (kann sogar stenografieren…), die als emotionale Stütze (alias Kummerkasten) für die Männer im Buch fungiert, die Dracula jagen.
3. Dracula: Untoter Graf aus Transsylvanien, der nach London übersiedeln will, um dort seine Blutgier zu befriedigen; sein erstes Opfer wird:
4. Lucy Westenraa: Hübsches, blondes Mädchen, Schlafwandlerin und beste Freundin von Mina. Verlobt mit:
5. Arthur Holmwood: Englischer Lord. Befreundet mit dem Amerikaner Quincey Morrey, der ebenfalls um Lucy Westernraas Hand anhält, allerdings einen Korb bekommt, genau wie:
6. John Seward: Psychiater, der einen Patienten namens Renfield hat und sich um Lucy kümmert, als sie etwas blutleer zu werden beginnt. Zur Unterstützung ruft er seinen alten Dozenten:
7. Dr. Abraham van Helsing: Dozent für Gehirnforschung in Holland, der als einziger Lucys Symptome zu deuten vermag und nach ihrem Tod (bzw. ihrer „Erlösung“ mittels eines Holzpflocks) eine Allianz gegen Dracula, bestehend aus Jonathan, Arthur, Quincey und Dr. Seward, zusammen trommelt. Auch Mina wird zunächst mit einbezogen, bis Dracula sie als sein neues Opfer aussucht.
„Dracula“ ist das einzige namhafte Werk von Bram Stoker (geboren 1847), obwohl er noch 9 weitere veröffentlicht hat. Es wurde 1897 geschrieben, aber das sollte niemanden abschrecken: Die Sprache ist überraschend einfach zu verstehen. Gegenüber Bram Stokers Schreibstil wirkt der von J.R.R. Tolkien altertümlich und kompliziert. Das kann nun entweder heißen, dass Tolkien für seine Zeit (1940er Jahre) sehr altbacken schrieb oder aber Stoker 40 Jahre zuvor sehr salopp und sich schon ein bisschen dem Trash annäherte. Heute liegt die Gewichtung freilich anders: Das Buch liest sich flüssig, aber die Wortwahl aus dem 19. Jahrhundert gibt der Handlung einen feierlichen Ernst, den man in modernen Vampirromanen vergeblich sucht. So lässt Bram Stoker Dracula von sich selbst sagen:
„Ich suche nicht Lust noch Heiterkeit, nicht warmen Sonnenschein und glitzerndes Wasser, wie es die fröhliche Jugend tut. Ich bin nicht mehr jung und mein Herz ist durch die oft wiederholte Trauer um liebe Tote nicht mehr zum Frohsinn gestimmt. Auch die Mauern meines Schlosses sind zerstört; es gibt viele Schatten und der Wind pfeift kalt durch zerbröckelnde Zinnen und Luken. Ich liebe das Dunkel und die Schatten und bin gern allein mit meinen Gedanken.“
Diese bildreiche Sprache führt den Leser zu Beginn der Geschichte durch das unwegsame, düstere Transsylvanien und schafft eine wundervolle Spuk-Atmosphäre, in welcher sich der erste Teil der Handlung auf Schloss Dracula abspielt. Allerdings kann Bram Stoker dieses Flair nicht mehr aufrecht erhalten, sobald die Handlung nach London verlagert wird.
Lucy und Mina beim Aus-dem-Nähkästchen-PlaudernHier trifft man auf Mina, die ihre beste Freundin Lucy auf dem Land besucht; erfährt, dass Lucy drei Heiratsanträge bekommen hat, zwischen denen sie sich nicht recht entscheiden kann… und wird schier wahnsinnig, weil man das Gefühl hat, mitten in einem Jane Austin-Roman gelandet zu sein!!
Nach und nach gewöhnt man sich aber daran und lernt, dass alle Gespräche Fäden in einem dichten Handlungsgeflecht ziehen. Man merkt auch, dass Bram Stoker seinen Roman sehr vorsichtig konzipiert hat: Auf den ersten 150 Seiten fällt kein einziges Mal das Wort „Vampir“ und Van Helsing braucht fast genau so lange, um mit der Sprache heraus zu rücken, was es mit jenen Vampiren nun auf sich hat. Man muss dabei einfach bedenken, dass Stokers Publikum aus dem prüden Great Britain des 20. Jahrhunderts bestand, Stoker konnte also nicht gleich auf den ersten Seiten diverse Blutorgien von Dracula beschreiben, aber er versäumt es nicht diverse, Andeutung zu machen. Und eben diese Andeutungen kurbeln das Kopfkino an, welches in klassischem Horror nicht fehlen darf.
Nach dem Tod von Lucy beschreibt Van Helsing eingehend das Wesen der Vampire, was dem Buch einen neuen Schliff verpasst und Pflichtlektüre für jeden Autor sein sollte, der sich überlegt, einen Vampir-Roman zu schreiben.
Ein paar Beispiele: Ein Vampir kann sich in eine Fledermaus, einen Hund, eine Ratte und in Nebel verwandeln. Durch letzteres gibt es keine Mauern, die ihn aufhalten können, er kann sich materialisieren und durch die kleinsten Ritzen schlüpfen. Er kann Wölfe und Ratten kontrollieren, Wind und Wetter beeinflussen und ist so stark wie zwanzig Mann. Er altert, wenn er unter Blutentzug leidet und wird jung, wenn er das Blut eines Menschen trinkt.
Seine Schwächen: Er mag keinen Knoblauch, außerdem keine Hostien und kein Weihwasser, keine Kreuze und keine wilden Rosen (natürlich auch keine Holzpflöcke), ABER die Sonne lässt ihn nicht verbrennen. Sie nimmt ihm nur seine Vampir-Fähigkeiten, so dass er zwischen Sonnenauf- und -untergang in der Gestalt bleiben muss, die er zuletzt angenommen hat. Da er so natürlich sehr verletzlich ist, zieht er es vor, in dieser Zeit in seinem Sarg zu schlafen; ein Schlaf, der dem Tod gleicht und aus dem er erst wieder bei Sonnenuntergang erwacht.
Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist die Art, wie Bram Stoker seine Geschichte erzählt. Man könnte hier einmal banal den Begriff „Briefroman“ nennen, aber das würde der Sache nicht gerecht. Ich selbst bin nicht der größte Fan von Briefromanen und würde „Dracula“ also nicht loben, wenn Bram Stoker sich an dieser Stelle nicht ein bisschen mehr hätte einfallen lassen. Tatsächlich sind die Briefe in diesem Buch eher in der Unterzahl, viel mehr wird so ziemlich jedes Kommunikationsmittel verwendet, das es in der damaligen Zeit gab: Tagebucheinträge, Zeitungsartikel, Telegramme, Logbucheinträge, Bücher, sogar fonografische Aufzeichnungen und natürlich auch Briefe und Depeschen. Man könnte also „Dracula“ als intermediales Werk des 19. Jahrhunderts bezeichnen.
Diese Schreibweise Stokers hat allerdings Vor- und Nachteile. Es wird zum Beispiel die Handlung künstlich in die Länge gezogen, da man sehr viel über das Innenleben der Figuren (die ja alle etwas überempfindsam sind) erfährt, was nicht unbedingt notwendig wäre. Auf der anderen Seite – und das finde ich wirklich einen genialen Schachzug – bekommt Dracula selbst dadurch etwas so Unnahbares und Undurchschaubares, wie es nur selten im Horror gelingt. Man weiß nie, wo er gerade ist oder was er plant. Er agiert stets im Verborgenen und die Leidtragenden können am anderen Morgen nur schockiert darüber berichten (oder eben auch nicht mehr…). Das macht meiner Meinung nach das wahre Flair an Bram Stokers Dracula aus.
Der heutige Schmuse-Vampir unterscheidet sich in so vielerlei Hinsicht von ihm, vor allem aber fehlt Edward und Co. die Würde des Grafen, die mit einer Portion Verruchtheit gemischt ist. Denn natürlich haftet auch Bram Stokers Vampiren jener laszive, erotische Charme an, mit denen sie die Menschen „fangen“ – zumindest den weiblichen Vampiren. Es scheint aber so, als bräuchte Dracula diese Tricks nicht. Er klopft lieber als Fledermaus an das Zimmer einer jungen Frau und materialisiert sich aus Nebel mitten in ihrem Gemach – stilvoll, wie ich sagen muss.
Die Quelle aus der Stoker seinen Dracula bezog, geht auf einen grausamen Grafen in Rumänien namens Vlad Tespes zurück, der den Beinamen „Der Pfähler“ hatte. Angeblich führte er blutige Kriege gegen die Türken und trank das Blut seiner Feinde. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich die Leute im rumänischen Volk aus Angst vor ihm diese Geschichten ausdachten. Doch egal, wie viel an dieser Quelle Wahrheit und Mythos ist, Bram Stoker wusste, damit umzugehen und kreierte zusammen mit dem Stoff aus alten rumänischen Volkssagen über blutsaugende, spitzzähnige Menschen ein neues untotes Monster, das seitdem in jeder Generation wieder eine neue Anhängerschaft gefunden hat.
Es gibt ein paar inhaltliche Dinge, die man aus heutiger Sicht anprangern kann, und davon ist sicher das Ende des Stücks der wichtigste Punkt. Es sei nur so viel gesagt, dass bisher in keiner einzigen Verfilmung oder Inszenierung das Ende des Buchs werktreu dargestellt wurde und das aus gutem Grund. Auf den letzten 50 Seiten geht Bram Stoker fühlbar die Luft aus, es scheint so, als wollte er diesen komischen Vampirroman nur noch schnell irgendwie zu Ende bringen und das Ende ist dementsprechend halbherzig und simpel. SEHR SCHADE, wie ich sagen muss, gerade weil man doch, nachdem Van Hellsing seine Allianz gegen Dracula gebildet hat, so schön auf Vampirjagd gehen könnte.
Ich will aber trotzdem niemandem abraten, das Buch zu lesen, vielleicht sind es gerade die Schwachstellen der Erzählung, die immer wieder die Fantasie der Menschen ankurbeln. Immerhin kenne ich kein anderes Werk, das so oft interpretiert wurde wie „Dracula“. Ich persönlich habe nun das Gefühl, besser urteilen zu können, ob ich eine Vampir-Interpretation gut oder schlecht finde, weil ich mich mit dem Ursprung des Vampir-Kults in unserer Gesellschaft beschäftigt habe.
Wenn mehr Menschen Bram Stokers „Dracula“ kennen würden, gäbe es sicher weniger Sportwagen fahrende Vampire – und das wäre doch sehr wünschenswert!
Dem kann ich nur beipflichten! Und wer das Ganze gut im Film verpackt sehen will, der schaut sich Werner Herzogs „Nosferatu“ mit Klaus Kinski in der Hauptrolle an …