© Infinity Ward via IGDB

Call of Duty ist eine der erfolgreichsten Spielereihen der Welt, die mit dem Reboot der Modern Warfare Spiele einen neuen “Realismus” wagt. Dieser scheitert spektakulär. Und fasziniert mich gleichzeitig. Wieso?

Der neue Realismus

Die Call of Duty Reihe (CoD) ist spätestens seit Call of Duty 2 aus dem Jahr 2005 für ihre bildgewaltigen Inszenierungen bekannt. Damals wurde versucht, die berühmte Sequenz des Films Der Soldat James Ryan (1998), in der die Erstürmung des Strands der Normandie gezeigt wird, im Videospiel erlebbar zu machen. Dies gelang im Rahmen der Mittel der Zeit so gut, dass sich sowohl Kritik als auch Spielerschaft mit Lob nur so überschlugen. Während Call of Duty 3 im Folgejahr eher gemischt aufgenommen wurde, gelang Entwickler Infinity Ward schließlich 2007 mit Call of Duty 4: Modern Warfare eine Neuinterpretation der Serienformel, die sowohl zu ihrem Erscheinen, als auch noch heute als Meilenstein des Genres bewertet wurde. Die Action war schneller und intensiver, die Grafik besser, doch vor allem die Inszenierung von Missionen und Cutscenes konnte sich auf einmal mit der des Blockbuster-Kinos messen. Vom cinematischen Auftakt auf einem Frachter im Sturm bis hin zur berühmten Sniper Mission in der Nähe von Tschernobyl steckte das Spiel voller bildgewaltiger Momente, die Spielenden im Gedächtnis blieben. Gleichzeitig gab es eine große Kontroverse um eine Mission, in der Spielende in die Rolle eines Waffen-Operators in einem amerikanischen Gunship schlüpfen und aus der Luft und ohne jede Gefahr auf Ziele schießen, wobei jeder Treffer mit einem trockenen “beautiful” kommentiert wird. Die Interpretationen reichten hier von einer Anklage des Spiels als menschenverachtend bis hin zu den Behauptungen, man hätte es hier mit einer die Unmenschlichkeit des Krieges entlarvenden Anti-Kriegs-Mission zu tun. Den große Schock-Faktor, den dieses Level mit sich brachte, kann ich mir vor allem damit erklären, dass sich hier nicht mehr primär an Kino-Inszenierungen, sondern an Nachrichtenbildern orientiert wird. 2007 war der von US-Truppen geführte Irakkrieg noch immer in vollem Gange und wurde zum Hauptmotiv von Modern Warfare. Entsprechend liegt es nahe, dass der Aufschrei und die medienethische Kontroverse um das Spiel die Verkäufe in die Höhe getrieben haben, denn seit diesem Moment loteten viele weitere CoD-Titel die Grenzen der Tabus dessen aus, was in einem Videospiel gezeigt und getan werden darf – meist dadurch, dass diese Grenzen bewusst überschritten wurden. Man denke nur an die “No Russian”-Mission aus Call of Duty: Modern Warfare 2, in der die Spielenden durch die Augen einer Spielfigur an einem Terroranschlag auf einen Flughafen teilnehmen. In der unzensierten Version war dabei das Feuern auf als Zivilisten markierte NPCs möglich und sogar von den anderen Figuren im Team der Spielfigur gefordert. Hierzu war das Medienecho eindeutig: die Mission wurde von nahezu allen spielejournalistischen Publikationen verurteilt. In Verkaufszahlen war Modern Warfare 2 noch erfolgreicher als sein Vorgänger.

Nach weiteren Ausflügen in vergangene, zukünftige und zunehmend fiktivere Kriegsszenarien, sollte die 2019 begonnene Neuauflage der Modern Warfare Serie nun also wieder Anschluss an die Realität erhalten und dabei ein neues Level an Realismus mitbringen. Gerade im ersten Teil der neuen Reihe ist dieser Anspruch an allen Ecken und Enden spürbar. Dies beginnt beim Detailreichtum der Animationen, wenn etwa ein Magazin gewechselt wird. Jeder Handgriff, jeder Augenblick des Vorgehens ist Punkt für Punkt nachvollziehbar. Nichts passiert außerhalb des Sichtfeldes. Die Materialität von Waffe, Magazin und Körper steht im Vordergrund, visuell wie auditiv. Überhaupt ließe sich zum Sounddesign und seinem Beitrag zu einem Gefühl von Realismus ein eigener Artikel schreiben. Doch bleiben wir bei den Bildern. Diese haben ihre Orientierung am Blockbuster in weiten Teilen abgelegt. Wenn sie filmisch inspiriert sind, dann von Sequenzen wie der Erstürmung des Bin-Laden-Verstecks im 2012 erschienenen Zero Dark Thirty. Als Spielender sehe ich dunkle Räume im Taschenlampenlicht oder das kalte Grün der Nachtsichtgeräte. Die Level sind häufig kleiner angelegt. Anstatt einer langen Verfolgungsjagd durch eine sich im Krieg befindende Stadt, während der überall Feinde auftauchen, konzentriert sich das Geschehen auf die langsame, methodische Erstürmung einzelner Häuser. Es muss immer wieder entschieden werden, ob geschossen wird, oder ob die Hände des Gegenübers doch oben bleiben. Das macht mein Erleben nicht nur intensiver, es wird persönlich.

So entfaltet das Spiel eine ungeheure Sogwirkung auf mich und ist wohl am Nähsten an dem dran, was ich intuitiv unter Realismus verstehen würde. Denn ich bekomme das Gefühl, dass es sich so tatsächlich anfühlen könnte, Teil einer Spezialeinheit zu sein. 

Ähnlich verhält es sich mit zwei anderen Sequenzen im ersten Teil der Neuauflage. In einer davon werde ich mitten ins Geschehen eines Terror-Angriffs im Londoner Picadilly Circus geworfen. Von der Anspannung kurz vor dem Beginn des Feuers der Terroristen bis hin zum Chaos, mitten in eine ausweglos scheinende Situation geworfen worden zu sein, bietet das Spiel hier die Möglichkeit, eine Situation, die den Meisten nur aus den Nachrichten bekannt ist, in sicherem Rahmen “mitzuerleben”. Dasselbe gilt für ein Level später im Spiel, in dem ich in die Rolle eines Mädchens in einem fiktiven nahöstlichen Land schlüpfe, dessen Dorf gerade von einer Miliz besetzt wird. Mit ihr erlebe ich, wie ihr Vater vor ihren Augen getötet wird, als er eigentlich mit ihr und ihrem Bruder flüchten will. Daraufhin müssen die Kinder in einem Versteckspiel den hünenhaften Mörder überwältigen und anschließend unbewaffnet und wehrlos einen Weg aus dem Dorf finden. Ich soll also direkt und in aller Drastik – unterwegs beobachten die Kinder Grausamkeiten von Hinrichtungen bis hin zu Giftgaseinsatz – die Anfänge von Flucht- oder Bürgerkriegsgeschichten nicht nur passiv beobachten, sondern durch das Medium des Spiels aktiv selbst erfahren. Ich bin im Gegensatz zum Film und trotz filmreifer Inszenierung kein passiver Zuschauer, sondern aktiver Teilnehmer, der scheinbar die Situationen selbst mitgestaltet, auch wenn sie letzten Endes nur eine Art von Verhalten belohnen und kaum Abweichungen davon zulassen.

Gerade deshalb benötigt die neue Modern Warfare-Reihe ein Fingerspitzengefühl und einen Grad an Differenzierung, den die Spiele nicht leisten können. Sie scheitern also an ihrem eigenen Realismus-Anspruch, und dies vor allem aus zwei Gründen.

Die Machtfantasie

Das erste Moment des Scheiterns hängt mit einem tief in der CoD-Reihe verankerten Problem zusammen, das im Aufeinanderprallen von Gameplay und Narration auftritt. Denn wie die meisten kommerziell angelegten Spiele sollen CoD-Titel in erster Linie Spaß machen und setzen dabei auf einen relativ simplen Loop aus graduell schwieriger werdenden Shooter-Passagen, an deren Ende spektakulär inszenierte Cutscenes als Belohnung warten. Um dieses Belohnungsgefühl noch zu verstärken, wird Spielenden außerdem narrativ meist gespiegelt, dass ihre Spielfiguren Held:innen sind, die gerade das Richtige getan haben, manchmal mit dem relativierenden Zusatz, dass es vielleicht richtig, aber nicht unbedingt angenehm war. Das Motiv der Person, die das tut, wozu die meisten anderen nicht in der Lage wären, ist hier dominant und zumindest meiner eigenen Erfahrung nach erschreckend effektiv. Es fühlt sich einfach gut an, vermeintlich die Welt zu retten, indem ich immer unmöglicher scheinende Situationen meistere.

Auch hiermit wurde in der CoD-Geschichte experimentiert, z.B. in Call of Duty: Modern Warfare 3 von 2011, das gerade dafür viel Kritik erfuhr, dass das Handeln der Spielfiguren sich konsequenzlos anfühle. Dabei wäre hier ja eigentlich eine kriegskritischere Logik zu finden, wenn trotz aller Hurra-Sprüche und erlegten Gegnern die eigene Spielfigur am Ende eines Levels in einer Ruine verendet. 

Angesichts der Tatsache, dass Spielende gleich zu Anfang als Teil einer Spezialeinheit ein U-Boot im umkämpften Hafen von New York entern, zerstören und dann nach einer wahnwitzigen Verfolgungsjagd mit dem Leben davon kommen, scheint diese Kritik auch überzogen, zeigt aber, worauf es CoD-Fans ankommt. Ähnlich wie die Kontroversen um die als unverlässlicher Erzähler angelegte Hauptfigur Mason aus Call of Duty: Black Ops von 2010, bei der immer wieder in Frage gestellt wird, ob man hier nun eigentlich als Held oder ein Bösewicht am Werk ist. Die Spielenden, so zeigt sich, wollen sich mehrheitlich als Held:innen fühlen.

In seinem ausführlichen Video-Essay zur CoD-Reihe macht Spielejournalist Noah Caldwell-Gervais dies auch als die große Stärke des Franchise aus. Die Spiele seien für Menschen, so argumentiert er, die Videospiele lieben, aber arbeiten müssen, keine Zeit für lange offene Welten haben und kein Geld, sich ständig die neueste Ausrüstung für den PC zu kaufen. Die Zielgruppe ähnelt der eines FIFA oder anderen Sportspielen. Man kauft einmal im Jahr den neuen Titel, der dann wieder für ein Jahr zu unterhalten weiß, wenn häppchenweise die Kampagne gespielt oder die ein oder andere schnelle Multiplayer-Runde bestritten wird. 

Dabei gibt es wohl kaum eine Spielereihe, die so akribisch darauf achtet, Spielenden schon nach kürzester Zeit das Gefühl zu geben, etwas geschafft, etwas gut gemacht oder etwas spektakuläres erlebt zu haben. Das Klassenargument, das Caldwell-Gervais aus diesem Game Design ableitet ist faszinierend und sein Essay sehr zu empfehlen, doch seine Analyse ist für diesen Artikel in einer anderen Weise relevant. Denn ein Terroranschlag oder der Überfall einer Miliz auf ein Dorf halten keine Momente der Gratifikation für die Betroffenen bereit. Auf der anderen Seite ist fundamentales menschliches Leid kein spaßiger Treiber für ein Videospiel. Hier stehen die beiden Botschaften, die Gameplay und Narration jeweils vermitteln wollen, in direktem Widerspruch zueinander. Etwa, wenn bei der Anschlagsszene am Picadilly Circus die Spielfigur plötzlich vom normalen zum Super-Polizisten wird und in einer längeren Action-Sequenz eine innerhalb der behaupteten Welt völlig unplausible Anzahl an Terroristen erschießt.

Dennoch ist es wohl diese Machtfantasie und das Vertrauen darauf, sie früher oder später ausleben zu können, die Spielenden die Sicherheit gibt, sich zuvor auf beklemmende, beunruhigende Szenen und Momente einzulassen. Denn früher oder später kann diese Anspannung und die emotionale Aufgewühltheit wieder in Gameplay umgewandelt werden, welches das eigene Überlegenheitsgefühl wiederherstellt. An dieser Stelle könnten nun die politischen Implikationen dieses Gefühl weiter erörtert oder bei der Konstruktion der neuen Modern Warfare-Titel die Prinzipien der Kulturindustrie mit heran gezogen werden, doch das soll nicht der Fokus dieses Artikels sein. Ein Aspekt des Scheiterns der Spiele an ihrem Realismus-Anspruch ist nun klar geworden. Es gibt jedoch noch ein zweites, tiefer gehendes Problem: die Spiele simulieren nicht die Realität, sondern eine bereits bestehende Simulation.

Leben in der Simulation

In seinem Buch Simulacra and Simulation argumentiert der Philosoph Jean Baudrillard, dass wir durch die modernen Massenmedien in einer Simulation leben. Dabei sind mit diesen modernen Massenmedien vor allem das Fernsehen, das Kino und das Radio gemeint, denn das Werk erschien 1981, als Videospiele noch eine recht neue Erscheinung und soziale Netzwerke nicht vorstellbar waren. Baudrillard stellt hier fest, dass wir bei allem, was wir nur zeichenhaft wahrnehmen und nicht direkt in einer Situation miterleben, nicht über die bezeichnete Realität, sondern nur über die Zeichen selbst diskutieren können. Die moderne Gesellschaft, so Baudrillards Gedanke, hat beinahe alle Aspekte der Realität durch Zeichen ersetzt und interagiert nur noch mit diesen, anstatt mit der Realität selbst. Sie lebt also in einer Simulation. 

Diese Auffassung wird deutlich an einer Serie von drei Artikeln, die er über das Jahr 1991 verteilt über den Golfkrieg schrieb: Der Golfkrieg wird nicht stattfinden, Der Golfkrieg findet nicht statt und Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden. Dabei spricht er nicht ab, dass die als “Golfkrieg” bezeichneten Kampfhandlungen stattgefunden haben, stellt aber den Begriff “Krieg” in dem Zusammenhang in Frage und bezeichnet das Vorgehen der amerikanischen Truppen stattdessen als Gräueltat, die medial als Krieg verkauft wurde.

Ob Baudrillard mit seinen Überlegungen allumfassend Recht behält, kann angezweifelt werden, doch für die Betrachtung des Realismus in CoD ist der Gedanke sehr nützlich. Wie eingangs bereits festgestellt, bezieht sich die Reihe in ihren Bildern und der Art der Inszenierung nicht auf tatsächliche Kriegshandlungen, sondern auf Darstellungen derselben in Kino und Nachrichten. Diese bereits bekannten und deshalb für die Spielenden anschlussfähigen Zeichen werden nun in den neuen Modern Warfare-Teilen mit der bereits erwähnten akribischen Detailversessenheit umgesetzt, die hilft, einen Anschein von Realismus zu erwecken. Es sind die Details, die sich in der Nachrichtensendung nicht wahrnehmen lassen. Das spezifische Klicken, wenn das Magazin in der Waffe einrastet. Die genaue Art und Weise, wie die Hand sich um den Griff legt, wie der Finger neben oder am Abzug verharrt. Das Tanzen des Lichtkegels, mit dem sich auch einmal die Teile eines Raums kurz beleuchten lassen, den man auf einem Zeitungsfoto nicht sehen würde. 

Diese Details fungieren als Einladung, als Erleichterung, die Spielwelt während des Spielens als die Realität anzunehmen, darin einzutauchen. Sie dienen dem aus dem Kino bekannten Prinzip des “Suspension of Disbelief”, das bewirken soll, dass Zuschauende aufhören, die auf der Leinwand präsentierte Realität zu hinterfragen und sich anstelle dessen der Illusion des Films hinzugeben. Doch beziehen sie sich hier nicht auf eine Realität, die uns näher gebracht werden soll, sondern auf eine Simulation im Sinne Baudrillards, auf ein Zeichensystem, das so weit angereichert wird, dass es noch stärker eine Realität vorgaukelt, die es so nicht gibt und nie gegeben hat.

Und auch hier gilt, was sich schon in Bezug auf die Machtfantasien feststellen ließ: das, was durch die Filter der Nachrichten und des Kinos in erster und dann durch das Verdichten dieser Motive im Spiel in zweiter Instanz ausgeblendet wird, macht die Beschäftigung mit den Inhalten in einem Unterhaltungsmedium vielleicht erst möglich. Ein Fluchtversuch von Kindern aus einem von einer Miliz überrannten Dorf wird in der Realität wohl kaum darin enden, dass diese Kinder nicht nur überleben, sondern später sogar zu Supersoldaten werden. Nicht in den Nachrichten und nicht einmal im Kino wäre so eine Handlung plausibel zu machen und das wird sie auch in Modern Warfare nicht. Vielmehr sind es diese inneren Widersprüche, das Scheitern, bzw. das Über-den-Haufen-werfen des eigenen Realismus-Anspruchs, das zum Nachdenken anregt. Über die Wirkungsweise des Mediums Videospiel, oder vielleicht sogar darüber, wie die eigentliche Realität moderner Kriege aussieht. 

Quellen

Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulation. The University of Michigan, Michigan, 1994.

Caldwell-Gervais, Noah: The Complete Call of Duty Singleplayer Campaign Critique (For PC). Link: https://www.youtube.com/watch?v=AvN51r1o1Nc&list=PLdjrwPDoXHLDFOwT1dU794Ueod_nkxR85