Einhundert Jahre später – deutsche Vampirfilme und Marxismus in Julian Radlmaiers Film „Blutsauger„
Am trüben bewölkten Strand der Ostsee sitzt eine Gruppe namenloser Menschen in einem Kreis. Gelesen und diskutiert wird “Das Kapital” von Karl Marx. Der Marx-Lesekreis wird etabliert, bevor die Geschichte verortet und die Hauptfiguren vorgestellt werden. Der politische Diskurs existiert in dieser Filmwelt.
Vampirismus scheint ein Thema zu sein. Es geht um den von Marx beschriebenen Vergleich zwischen dem blutsaugenden Vampir und dem ausbeuterischen Kapitalisten.
Es erfolgen keine leidenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der politisch angelehnten Thematik, sondern es herrscht eine eher selbstgefällige, spielerische Atmosphäre, die fast apolitisch oder apathisch scheint. Hervorgehoben wird dies vor allem nicht nur durch die Mimiken der Darsteller:innen, sondern vielmehr durch eine inexpressive Sprechart, die an manchen Stellen fast monoton wirken kann. Die Mitglieder des Kreises scheinen weit entfernt von ihrer Umgebung und von ihrer sozialen Realität zu sein. Sie sprechen in unrealistisch langen und gestellten Sätzen und drücken sich emotional minimalistisch aus. Der politische Diskurs ist mit keiner Leidenschaft gebunden – was ist eine Revolution ohne Revolutionäre?
Erst dann wird der Filmtitel, BLUTSAUGER, eingeblendet.
Eine ambivalente Beziehung mit dem audiovisuellen politischen Aktivismus wird in diesen ersten Minuten hergestellt, welche im Rahmen der Erzählung immer wieder auftaucht. Inwiefern Blutsauger als ein politischer Film bzw. als ein Film über Politik bezeichnet werden kann, wird im Folgenden diskutiert. Während die Marx-Thematik, die sich in der Vampir-Symbolik manifestiert, ein ideologisch angelehnter Schwerpunkt zu sein scheint, ist der apathische Flair, der sich u.a. in der spärlichen Emotionalität der Figuren manifestiert, schwer zu ignorieren.
1928 – die Industrielle Octavia Flambow-Jansen (Fabrikbesitzerin), die Jakob (ihrem Diener und persönlichen Assistenten) das Duzen anbietet, sieht sich als “liberale” Kapitalistin und bezeichnet ihre Art als “amerikanisch”. Sie lässt Jakob schließlich mit ihr am Esstisch sitzen. Es stellt sich aber früh heraus, dass sie und sämtliche andere Kapitalist:innen in ihrer Umgebung Blutsauger sind; Vampire. Arbeiter:innenblut ist eine kostenlose Delikatesse, deren Verzehr konsequenzlos scheint. Flambow-Jansen beginnt sich für einen großen, charmanten und exotischen Fremden, der plötzlich am Strand mit einem Reisekoffer auftaucht, zu interessieren. Am Esstisch in ihrem großen Haus erzählt er, dass er als russischer Baron wegen der Revolution in seiner Heimat jetzt nach Deutschland geflohen sei. Der Diener Jakob sitzt auch am Esstisch. Anstatt die von ihm gekochten Schnecken mitzuspeisen, nippt er lautlos an seiner Cola und beobachtet, wie Octavia den Herrn Baron anflirtet, indem sie die Revolution verdammt. Bald erfahren sie aber, dass der Fremde über seine Identität als Baron lügt. Keine Sorge, er ist kein Vampir, sondern ein harmloser Ex-Schauspieler, dessen Blut bestimmt auch höchst deliziös schmeckt.
Durch Rückblenden in sein geliebtes Heimatland erfahren wir, dass er mit dem Regisseur Sergei Eisenstein gearbeitet hat. In der kanonischen Filmgeschichte sind Eisensteins politische und formalistische Filme für einen markanten Montagestil bekannt. Eisensteins Filme (wie Strike und Battleship Potemkin) stellen oft die revolutionären Anstrengungen der Arbeiter:innen im Klassenkampf dar. Es geht dauernd um Bewegung, Agitation und Metaphern. Die Filme sollten Arbeiter:innen ermächtigen; sollten durch ihre Bewegung bewegen. Non-diegetische (nicht-erzählerische) Bilder von geschlachteten Tieren werden in Strike (1925) zwischen diegetische Bilder von abgeschossenen Arbeiter:innen geschnitten. Montage und Filmform sind essenzielle erzählerische Werkzeuge für sämtliche frühe sowjetische Filmemacher:innen. So betont Dziga Vertov, die Wichtigkeit von Bewegung und die Notwendigkeit der Ablehnung des Menschen als Filmobjekt in seinem einflussreichen Manifest. Im Gegensatz zu der Maschine könne sich der Mensch nicht beherrschen, er sei der Darstellung nicht wert, weil er sich allein von seiner Bewegung nicht leiten lasse und somit die Filmsache durch Unwahrheiten beschmutzen würde. In Bewegung liegt Wahrheit und der journalistische Stil ist in sämtlichen Werken Vertovs schwer zu ignorieren.
Im Gegensatz zu Eisensteins non-diegetischen Tiermetaphern ist die Vampir-Symbolik in Blutsauger ein aktiver Teil der Erzählung. Metaphern sind hier überhaupt nicht subtil: Jakob der Diener ist ein Vegetarier und Octavia die Kapitalistin eine Vampirin. Interessanterweise stammen die meisten gezeigten Maschinen im Film nicht aus 1928, wann der Film eigentlich spielt, sondern aus späteren Zeiten. Die Maschinen, deren Bewegung damals in den 1920ern für Vertov Wahrheiten gezeigt haben, sorgen hier im postmodernen Zeitalter für Verwirrung – für die Fragmentierung und die Verzerrung von geschichtlichen Vorstellungen. Flambow-Jansen fährt ein grünes Kawasaki-Motorrad und in den Rückblenden des Schauspielers sind moderne Autos in einer Stadt des 21. Jahrhunderts zu sehen. Selbst Jakobs Cola-Dosen sind nicht zeitgenössisch – die ersten Coca-Cola-Dosen wurden erst ab den 1960er-Jahren verkauft. Faulheit und mangelnde Finanzierung sind hier nicht zu beschuldigen; Realismus und Wahrheit sind im Kontext von Blutsauger zumindest nicht mehr wichtig für die Filmsache an sich. Das erklärt auch, warum zugespitzte Gestelltheit und Paragraf-Sätze nicht vermieden, sondern akzentuiert und instrumentalisiert werden.
Wenn hier die Filmsache mehr oder weniger nicht mit Vertov und Eisenstein in Einstimmung ist, was ist sie dann? Blutsauger ist im sowjetischen Sinne kein politischer Film – muss er gar nicht erst sein – Vertovs Manifest ist 100 Jahre alt und der sowjetische Formalismus ist schon lange tot.
Die Filmsache bleibt in ideologischer Unklarheit; mit Marxismus dekoriert und mit szenischen ruhigen Landschaftsbildern, hübschen Dialogen und feinen Kleidern gesättigt. Die Stille dominiert, die Ablehnung des Realismus steht hervor.
Hier gibt es keinen Platz für den “call-to-action”, wie wir ihn von “traditionellen” politischen Filmen kennen. Kein Manifest, das man lesen muss, um was vom Film zu lernen. Trotzdem herrscht statt des politischen Aktivismus keine Passivität und keinen Nihilismus – der Film ist nicht unpolitisch. Ja, die Revolution ist gescheitert, der Marx-Lesekreis ist unproduktiv (es wird wortwörtlich im Kreis geredet), und die Blutsauger:innen werden weiterhin blutsaugen.
Aber das ist ja egal; im Westen leben die meisten neoliberalen Opfer in relativer Zufriedenheit. Es wird immer sehr viel geredet und kritisiert – es herrscht keine politische Apathie, nein. Aber für eine richtige Revolution ist der Westen vielleicht zu schlapp und träge geworden – besser gesagt, die kleine Gruppe unantastbarer weißer Männer mit dem Geld hat sichergestellt, dass es nie zu einer richtigen Revolution im Westen kommen kann.
Die Filmsache ist somit weder politischer Aktivismus noch politische Passivität/Apathie – es geht hier vielmehr um eine starre und unbewegte politische In-Aktivität. Eine soziale Tatsache, in der sich der Westen manchmal gefangen fühlt, wenn er mal nicht genug Ablenkungen konsumiert hat.
Dieser Artikel erscheint auch in der Juli-Ausgabe des Falters.
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