Die Augen der Frau unter der kohleschwarzen Umrahmung glitzern dunkel, verführerisch, fast schon gefährlich. Gleich darauf lächelt ihr sinnlicher Mund verschämt und verbirgt die Leidenschaft hinter hennabemalten Händen. Jede Bewegung ist fließend und so anmutig wie ein Blatt im Wind.

Aus den Falten ihrer bunten Gewänder taucht ein nackter Fuß auf, er tippt anmutig auf den Boden und die Glöckchen an den Gelenken klingeln. Der Klang einer Sitarr zittert durch den Raum und die verschleierte Schönheit beginnt im Takt rhytmischer Trommeln ihre Hüften zu wiegen, der glühende Blick eines dunkelhaarigen Mannes hält sie fest während sie mit hoher, vibrierender Stimme zu singen beginnt. Er wird sie nicht küssen, aber sein Tanz ersetzt den besten Sex!

So oder so ähnlich stellt man sich wohl klassischerweise einen indischen Film vor, und tatsächlich bestimmen diese  Komponenten – der Tanz, der Gesang, der sinnlich-orientalische Touch –  den Großteil des hauptsächlich in Mumbai produzierten Kinos, das nicht nur im Westen unter dem Spitznamen „Bollywood“ bekannt ist. Dabei handelt es sich um eine Zusammenziehung aus Mumbais altem Namen „Bombai“ und einer neckischen Anspielung auf den Versuch der Produzenten, ein Gegengewicht zu Hollywood aufzubauen: Seit es Film gibt, gibt es auch Bollywood, wobei die Verhaftung an Gestik und Mimik, die den indischen Film prägt, dem Stummfilm-Genre sicher zu Pass kam.

Hört man hier „indischer Film“ hat man sofort ein sehr klares Bild im Kopf, ohne sich wirklich bewusst zu sein, dass man damit nur einen (wenngleich sehr reichhaltigen) Teil einer ganzen Bandbreite an Produktionsweisen vor Augen hat, eben den Bollywoodfilm. Warum gerade der Bollywoodfilm, mit seinen zwar seichten, dafür aber tränenreichen Geschichten das Bild des indischen Kinos in Europa prägt, kann verschiedentlich erklärt werden. Der simpelste Grund mag sein, dass er, stärker als jeder Hollywoodfilm, eine Massenware ist: Es wird viel gedreht, viel Gutes und leider noch mehr Schrott, was wohl gleich auch die Skepsis erklärt, mit der viele dem indischen Kino gegenüberstehen. Quantität und Effizienz ist das Motto: Filme wie „Kabhie Kushie Kabhie Gham“ (2001)  oder „Indian Love Story“ (2003) sind schnell produziert, wird doch weniger auf Story oder Schauspielkunst Wert gelegt, denn auf die Musik, den Tanz und die Nachbearbeitung. Schnitt und Farbigkeit folgen dabei einer ganz eigenen  Ästhetik, die man vielleicht noch am ehesten in Pedro Almodovars Farbspektakeln à la „La Mala Educación“ als europäisches Pendant findet.

Bollywood folgt klar anderen Prinzipien als der klassische westliche Film, von Hollywood ganz zu schweigen: Die Geste und die Musik stehen im Vordergrund, es geht um die Kreation eines schönen Bildes, eingehüllt in eine Geschichte die leicht zu konsumieren, auf relativ flacher Basis lehrhaft ist und hauptsächlich dem Zweck dient, das wenig vom Glück verwöhnte indische Publikum aus seiner tristen Welt zu entführen. Das ist der Grund, warum das indische Publikum den Bollywoodfilm liebt und seine Helden zu Göttern erklärt. Warum dieser Hype inzwischen auch den Westen nicht völlig unberührt lässt, liegt hauptsächlich an zwei Männern: Dem Regisseur Karan Johar und seinem favorisierten Hauptdarsteller, dem ungekrönten „King of Bollywood“ Shahrukh Khan. Johar hat das Bollywoodkonzept auch bei uns populär gemacht, indem er seine Filme in einen westlichen Kontext einbettet, dies aber nicht Knall auf Fall tut, sondern sich mit seinen Lieblingsprotagonisten Shahrukh Khan, Kajol, Rani Mukherji und Prety Zinta Schritt für Schritt dem goldenen Westen nähert, ohne die Wurzeln aus den Augen zu verlieren. So findet sein Opus „Kuche Kuche Hota Hai “ noch völlig in Indien statt. Sein zweites Werk  „Kabhi Kushi Kabbi Gham“  findet immerhin zu 50% in Europa statt und seine letzten drei Filme sind schließlich vollkommen in Amerika (bevorzugt in New York) angesiedelt. Der Effekt: Erfolg zu Hause fürs Traditionelle, Erfolg in der Fremde für das Zugeständnis an den westlichen Mainstream.

Johars Arbeiten, besonders Kabhie Kushie Kabhie Gham, öffneten Bollywood die Tore zum Westen, von Deutschland bis Amerika. Sharukh Khans markante Nase hat sich inszwischen so stark im Westen etabliert, das sie inzwischen eine nicht weg zu leugnende Sparte in der Branche bildet, wenngleich mit eher expilzitem Liebhaberkreis. Fans  die sich, aufgrund der meist grottigen Synchronisation, auch gern den Spaß antun, die ohnehin eher simplen Dialoge auf Hindi mit deutschen Untertiteln anzusehn. Mumbais Prodiuktionsfirmen reagieren, wollen den besagten Kreis erweitern und machen Bollywood westfähig: Songs und Tänze werden reduziert bis eliminiert, die Story nimmt weniger auf Liebesgeschichten, denn auf das aktuelle Zeitgeschehen Rücksicht (wenn auch meist in ziemlich plakativer Art und Weise) und auch die sonst eher dramatisch zwischen Totale und Close Up changierenden Kameraeinstellungen werden plötzlich dem etwas weniger gutgläubigen Westzuschauer angepasst, auf Hollywoodformat getrimmt. Bestes Beispiel hierfür: Das kürzlich mit großem Anklang aufgenommene 9/11-Drama „My name is Khan“. Der gleichnamige Hauptdarsteller „King „Khan hat Glück,  dass sein Talent ausreicht um einen Film zu tragen, in dem er weder tanzen, noch zu Sitarrklängen eine glutäugigie Schöne anbeten darf. Ein  Glück auch für die Fans, die ihn doch sehr vermissen würden. Wie mein Lieblingskritiker Marco Spiess einmal meinte, Bollywood ist immer Starkino. Es stimmt: Wer fünf bekannte Filme kennt, kennt die bekanntesten Gesichter der Branche, gewöhnt sich an sie, liebt sie, will sie immer wieder sehen, singend oder auch nicht. Dieser Umstand ist nicht nur Karan Johar bekannt und so tauchen die bekannten Gesichter unter Umständen auch auf, wo man sie nicht erwartet. Immerhin, so der Liebling jeder indischen Schwiegermutter in einem Interview, ist indisches Kino mehr als nur Bollywood.

Der indische Film jenseits Mumbai hat sicherlich seine Wurzeln im Bollywoodkino, mal weniger deutlich zu bemerken, wie in Gurinda Chadras kleiner Erfolgsproduktion „Kick it like Beckham“ (2002, Parminder Nagra/ Keira Knightley) oder mit klaren Parallelen wie in Mira Nairs  Romanverfilmung „The Namesake“ (2006). Man merkt es ihnen in kleinen Ausbrüchen an, ein Tänzchen hier, ein paar orientalische Klänge dort… man merkt den Filmen an wo sie herkommen, zudem thematisieren beide Filme ähnliches, nämlich Inder im Ausland, ohne dabei so plakativ zu werden wie Karan Johar mit seinem „My Name is Khan“. Dann gibt es natürlich die Sorte Filme, die untrennbar mit der indischen Kultur verhaftet sind und weder Bollywood noch Hollywood Rechnung tragen. So kreierte die Independent-Filmemacherin Deepa Metha mit ihren Filmen Fire/Earth/Water eine Trilogie, die Indiens Geschichte, Kultur und Gesellschaft zu gezielt angreift und so kritisch reflektiert, dass die Regiseuse sich aufgrund von Morddrohungen im eigenen Land nicht mehr aufzuhalten wagt. Insbesondere die Rolle der Frau wird dabei von ihr angeprangert und jeglichen Bollywoodzaubers entkleidet. Ob nun deshalb oder weil es nur für eine begrenzte Gruppe von Interesse ist, aber Filme wie die von Deepa Metha haben nur einen sehr kleinen Markt. Auch wenn der letzte Teil ihrer Elementereihe „Water“ für seine kritische Darstellung der Situation indischer Witwen immerhin den Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2007 erhielt, bleiben Filme wie diese eine Seltenheit und deshalb ist über sie auch sehr viel weniger zu sagen. Leider?

So oder so ist der indische Film vielfältiger als man meinen könnte. Wer nur an Tänzerinnen in durchsichtigen Glitzerkleidern denkt, kennt ein mehr und mehr veraltetes Bollywoodkino, das schön war, aber leider vorbei zu sein scheint und wer mit Indien und Film nur Bollywood verbindet, der kennt sicher eine interessante und vielfach bediente Seite des indischen Kinos, sollte aber eventuell einmal seinen Horizont erweitern, in der Hoffnung, dort zum Beispiel Deepa Metha mit ihrer Element-Trilogie zu entdecken. Der Blick lohnt sich.