Hornhaut an den Fingern der linken Hand, außer dem Daumen – er spielt Gitarre, nein Geige, seinem exzentrischen Aussehen nach zu urteilen. Sein Gang ist bestimmt und schnell, sein Blick zielgerichtet, was darauf schließen lässt, dass er genau weiß, wohin er will. Umsonst bemüht er sich nicht, sich zu bewegen. Er interessiert sich nicht für Mitmenschen, was ebenso seine Zielstrebigkeit zeigt. Er wirkt abweisend, arrogant. Ein typischer Einzelgänger und intellektuelles Genie. Nervöse Unruhe. Er hat das Rauchen aufgehört. Nicht seiner Gesundheit wegen, er selbst scheint sich ebenso sehr egal zu sein, wie ihm andere Menschen egal sind. Statt Zigaretten nutzt er Nikotinpflaster, eine große Menge, wie man an den gereizten Hautstellen sehen kann. Den Griff zur Zigarette versucht er durch eine anderweitige Beschäftigung zu ersetzen. Seine Raucherentwöhnung zusammen mit seiner Unterforderung wandelt sich schnell in eine Existenz bedrohende Langeweile, die er damit verbringt, was er am Besten kann: Rätsel lösen.
So funktioniert analytisches Denken à la Sherlock Holmes und so würde Sherlock wohl beschrieben werden. Nikotinpflaster? Ja, richtig gelesen. Es geht hier nicht um den forensisch ermittelnden Detektiv des 19. Jahrhunderts, wie er in den Kriminalromanen von Sir Arthur Conan Doyle oder in dem Actionthriller von Regisseur Guy Ritchie auftritt. Hier geht es um die moderne Variante des berühmten Detektivs. Um den Sherlock Holmes des 21. Jahrhunderts, der mit seinen neuartigen Ermittlungsmethoden dort anfängt, Kriminalfälle zu lösen, wo Scotland Yard schon längst den Kopf in den Sand gesteckt hat.
Wäre die Beschreibung zu Beginn ein Teil eines Dialoges, so würde das Gegenüber wohl antworten:
Doch beginnen wir von vorne:
Das Schauspielduo führt im Der Hobbit II: Smaugs Einöde als Smaug (Cumberbatch) und Bilbo (Freeman) den sprachlichen Schlagabtausch weiter. Sherlock ist die preisgekrönte BBC-Serie, kreiert von Mark Gatiss und Steven Moffat, die den bekanntesten literarischen Detektiv und seinen treuen Gehilfen und Freund Dr. Watson durch die Straßen des heutigen Londons schickt, sich thematisch dennoch stets an die Literaturvorlage orientiert, nur diese eben dem heutigen Zeitalter etwas angleicht. Eine moderne Adaption – das Risiko, dass es sich bloß um billiges Eventfernsehen, handelt, ist hier stets groß. Rezipienten der Serie spalten sich in viele Lager. Objektiv betrachtet muss man dennoch zu der Schlussfolgerung gelangen: Sherlock ist Innovation. Sherlock ist ein Meisterstück der Serienkunst! Und dies in seiner Einfachheit. Sherlock Holmes ist ein arroganter, andersartiger Exzentriker, unterfordertes Genie und Außenseiter. Ihn und Dr. Watson, ein ehemaliger, fähiger und symphatischer Militärarzt, kann man wohl am treffendsten als die bretonischen Sheldon Cooper und Leonard Hofstadter beschreiben – herausragend gespielt von Benedict Cumberbatch (Gefährten, Star Trek Into Darkness) und Martin Freemann (Der Hobbit).
Storytelling par excellance
Die Faszination, die das Rätselraten seither auf Menschen ausübt, ist alt und doch immer noch aktuell. Auch die Anwendung in der szenischen Dramaturgie ist nicht neu. Aktiv vereinnahmt das Rästel den Krimi für sich. Tatort-Fans spekulieren jeden Sonntag, wer der Täter ist. Doch Sherlock ist weit mehr als Tatort und brilliert als dramaturgisches Glanzstück. Jede Folge ist ein großes Rätsel, welches man als Zuschauer nicht Durchschauen kann. Während man bei Tatort meistens schon ziemlich schnell weiß, wer der Täter ist, bleibt bei Sherlock von Anfang bis Ende die Lösung im Nebel verborgen. Plottwist reiht sich an Plottwist. Vorhersehbar ist nichts. Dabei ist die Dramaturgie Sherlocks eigentlich ganz klassisch: Kein Wort ist umsonst gesprochen, jede Nebenhandlung oder scheinbar nur einführende Szene meist essentiell für die Lösung. Alles fügt sich am Ende beinahe einfach zusammen. Doch das Wissen, dass ALLES wichtig ist, hilft trotzdem nicht, die Fälle zu durchschauen. Komplexes Storytelling, das 150 Prozent Aufmerksamkeit vom Zuschauer erfordert und dennoch diesen mit rasanter Leichtigkeit durch die eineinhalbstunden Film führt, sodass am Ende keine Frage offen bleibt (oder nur wenige, die jedoch dann folgenübergreifend wichtig sind). Genial in seiner Einfachheit und damit ist Spannung garantiert!
Demnach gilt viel Lob dem Autorentrio Mark Gatiss (selbst als Sherlocks Bruder Mycroft auf dem Bildschirm zu sehen), Stephen Thompson und Steven Moffat, die bereits alle bei Dr. Who als Autoren gewirkt haben. Wobei die besten Folgen aus der Feder Moffats (Ein Fall von Pink, Ein Skandal in Belgravia) und Thompsons (Der Reichenbachfall) stammen.
Ästhetik
Ebenso wie die Geschichten von Sir Doyle modernisiert und der heutigen Zeit angepasst wurden, prägen Modernität und Innovation auch die Devise der Filmästhetik. Sherlock trumpft neben spannungsintensivem Storytelling mit einer neuheitlichen Schnittechnik auf, die Tricks wie typische Szenenüberblendungen weit übersteigt. Schnitte werden an Linien von Objekten der vorangegangenen Szene angesetzt, die Sequenz „fährt“ in die nächste über. Zur Visualisierung von Sherlocks vorwiegend in Gedanken stattfindenden analytischen Prozessen werden Schrifteinblendungen verwendet, die sich harmonisch in das Setting einfügen. Auch Inhalte von SMS und Briefen werden dem Zuschauer statt des obligatorischen Schnittbilds auf das Handy ebenfalls durch Schrifteinblendungen gezeigt. Alles in Allem sind das beides Elemente, die die spannende Hektik von Sherlocks Arbeitsweise perfekt unterstreichen. Ergänzt wird dies noch durch die schnellen, schlagabtausch-ähnlichen Dialoge, welche zudem mit viel englischem Humor und Komischem, das sich durch den Unterschied von Watsons und Sherlocks Charakter ergibt, angereichert sind.
Auch im Umfang unterscheidet sich Sherlock stark von anderen Serien. Jede Folge hat eine Dauer von eineinhalb Stunden, jede Staffel umfasst „nur“ drei Folgen. An dieser Stelle lässt sich darüber streiten, ob Sherlock nicht eher schon eine Filmreihe ist – das Genre „Mini-Serie“ trifft auf jeden Fall erst recht nicht zu, in Anbetracht der Länge jeder Folge.
Klangliches Erlebnis
Musikalisch präsentiert sich Sherlock zuerst einmal recht Serien-typisch: Zu Beginn beziehungsweise nach einer Einführung in den zu lösenden Fall der Episode präsentiert sich uns das Titelthema. Musikalisch getragen gestaltet führt es uns in die Stimmung sowie den Cast der Serie ein. Auch im weiteren Verlauf von Folgen sowie der gesamten Serie werden wir zumeist von einzelnen Themen geleitet, die sich ganz nach dem Motto einer Filmmusik-Motivik zwar an Situationen anpassen, allerdings in der Grundstruktur wenig verändern. Am einprägsamsten ist dabei wohl das Motiv, das Sherlock selber beschreibt: Rhythmisch, witzig und mit musikalischem Augenzwinkern verweist es in zwei Richtungen. Zum einen vertont es seinen Charakter, zum anderen ist Sherlock aufgrund dieses Motivs eben, wie er ist. Dabei wird es in Szenerien eingebettet, die sich vor allem um seine latent soziopathischen Züge drehen, sowie das Zweifeln an oder Lösen der Fälle und uns dabei noch einmal auditiv klar macht: Boa ist das ein Fuchs!
Während sich die Musik also gleichzeitig seriell wie filmisch präsentiert, fällt der Sound der Serie in Design und Abmischung erst einmal nicht auf – in der Regel (leider?) ein Zeichen dafür, dass es besonders gelungen ist. Dennoch sind einige Auffälligkeiten und Leckerbissen zu erkennen, die uns ähnlich wie eine Musik emotional und in der Aufmerksamkeit durch die Folgen leiten. Zum einen geschieht dies durch den Einsatz verschiedenster Key-Sounds, also Sounds, die zuerst innerhalb der Serie etabliert und mit Bedeutung versehen werden, wie beispielsweise Sherlocks SMS-Ton. (Wir erinnern uns wohl am meisten an dessen Veränderung durch Irene Adler in Ein Skandal in Belgravia.) Folgend braucht also lediglich ein kurzes „aahh“ erklingen, und wir wissen automatisch, dass eine neue SMS von Ms Adler im Eingang wartet. Neben solchen Sounds, die uns akustisch durch die Geschehnisse der Serie leiten und diese sowohl begleiten sowie auch auditiv verkörpern können, sind vor allem die Szenen im Sound Design auffällig, in denen Sherlock hyperaktiv das Analysieren anfängt: Nicht nur Kamerabewegung und Bildausschnitt zeigen uns, wie Sherlock Menschen betrachtet und Details erkennt, sie werden ebenso akustisch betont. Zumeist sind sämtliche Hintergrundgeräusche ausgeblendet, wir hören lediglich Sherlocks Stimme und zudem einzelne dynamische Sounds oder die Klanglichkeit derer, die er aktuell benennt (Besteckklappern, Hundebellen, Regentropfen usw.) wodurch der Zuschauer auditiv auf die zentralen Details fokussiert wird. Hinzu kann dann teilweise ein, nennen wir es mal „elektronisches Wabern“ treten – Betonung und Vertonung von Sherlocks rasend arbeitendem Verstand, gleichzeitig in der Lage, uns durch die bassigen Modulationen in Anspannung zu versetzen. Ihr glaubt mir nicht? Einfach mal drauf achten!
Staffel 3
Wer nun Lust auf die Serie bekommen hat, der hat Glück. Heute um 21:45 läuft die Free-TV-Premiere von Staffel drei auf der ARD. Folge 2 und 3 folgen am 8. und 9. Juni ebenfalls um 21.45 Uhr. Das Gute an der Serie: Man kann eigentlich in jeder Folge einsteigen, schließlich ist jede Folge vorwiegend ein abgeschlossener Fall. Natürlich gibt es eine Rahmenhandlung, in Staffel eins und zwei der Antagonist Moriarty. Mit Staffel drei besteht die Chance auf eine neue, denn wir erinneren uns
Sherlock Holmes ist tot.
Staffel zwei endete mit einem furiosen Cliffhanger, der die Fangemeinde und Gerüchteküche zum Brodeln brachte: Der Selbstmord von Sherlock, thematisch nach der Kurzgeschichte „Das letzte Problem“, in der Holmes bei den Reichenbachfällen in der Schweiz in den Tod stürzt. Nein, kein Spoiler, nicht wirklich. Der Spoiler steckt eher in dem, was nun kommt: Unter Hashtag #Sherlocklives spekulieren Fans darum, wie Sherlock seinen Sturz überleben konnte. Und dass es weiter geht, spoilert uns die Serie selbst. Gerade wegen der langen Wartezeit zwischen den einzelnen Staffeln stieg die Zahl der Fanfictions enorm an. Dass dabei auch viel schwarzer Humor verwendet wird, ist wohl selbstverständlich.
Stellt also die Chips bereit und das Bier kühl, stellt jegliche Störfaktoren ab und genießt das Serienspektakel! Vielleicht erfahren wir dann, wie Sherlock sein Überleben inszeniert hat, vielleicht begegnen wir ja dem Sherlock der einleitenden Beschreibung wieder, vielleicht hat er sich aber auch verändert. Hoffentlich versagt Sherlock Holmes aber nicht plötzlich bei seiner „deduction“… äh, ich meine natürlich Herlock Sholmes!
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