Drachenläufer
Der Bestseller von Khaled Hosseini wurde im Jahr 2007 verfilmt und ist 1978 angesiedelt. Drachenläufer erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei afghanischen Jungen namens Amir und Hassan. Eine Bekannte erzählte mir ganz begeistert von diesem Buch – es sei sehr rührend und spannend. Da ich selbst afghanische Wurzeln habe, war ich sehr daran interessiert und machte mich auf den Weg in die nächste Buchhandlung. Erzählungen über menschliche Schicksale sind immer spannend, da sie meistens auf einer wahren Begebenheit beruhen. Es geht darin um Menschen wie Du und ich. Allerdings hat man auch schnell wieder die Nase voll davon, denn es gibt weit mehr als genügend Bücher dieser Art und sie ähneln sich sehr. Drachenläufer ist besonders und konventionell zugleich. Zunächst einmal ist es, wie viele andere afghanischen Geschichten, sehr traurig. Es zeigt so vieles, womit sich afghanische Flüchtlinge identifizieren können: Ein friedliches und glückliches Leben, dass sich von heute auf morgen in einen Alptraum verwandelt, wie die Zerstörung Afghanistans beginnt und die Flucht aus dem eigenen Land, in dem man sich nicht mehr sicher fühlt. Auch das Glück, die Sitten und die Kultur sowie die Erfahrung von Gewalt auf einer skrupellosen Art uns Weise – Das Leben von Hassan und Amir beinhaltet all diese Elemente.
Eine Freundschaft
die Völker vereint
Amir und Hassan gehören unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Amir gehört zu den Paschtunen, eine ostiranische Volksgruppe und Hassan zu der Volksgruppe der Hazara, die sich durch ein mongolisches Erscheinungsbild auszeichnen. Sie wurden schon in frühster Vergangenheit insbesondere von den Paschtunen diskriminiert und in den 1890er Jahren sogar versklavt. Hassans Vater ist der Diener von Ali, einem reichen Paschtunen und Vater von Amir. Trotz allem ist das Verhältnis zwischen den Familien respektvoll und warmherzig. Die Freundschaft zwischen den beiden Jungen ist ein wundervolles Beispiel dafür, dass die Herkunft keine Rolle spielen muss und sich auch unterschiedliche Volkgruppen respektieren und lieben lernen können. Es erinnert ein wenig an das Verhältnis von Weißen und Schwarzen und an die Geschichten von Menschen, die sich als Kinder trennen müssen und als Erwachsene wieder zueinander finden – wie eben Amir und Hassan.
Die Jungen verbringen fast jeden Tag miteinander – zum Beispiel liest Amir seinem Freund Hassan aus Büchern vor, weil der nicht lesen kann. Keine Seltenheit in Afghanistan, denn selbst heute ist es wichtiger, im Haushalt zu helfen und Geld zu verdienen, als zur Schule zur gehen. Der wichtigste Grund für die Freundschaft der Jungen ist jedoch, dass beide eine Leidenschaft verbindet: Sie lassen gerne Drachen steigen. Dieses wichtige Element taucht am Anfang und Ende des Films auf – Sie gewinnen sogar einen Wettbewerb und freuen sich so sehr darüber, dass sie lautstark jubeln und Arm in Arm in die Luft springen. (So ganz nebenbei: Drachensteigen lassen ist ein sehr beliebtes Hobby unter Afghanen).
Wendepunkte
Die Freundschaft zerbricht
Später treffen sie auf Kabuls Straßen auf einen Jungen namens Assef, der sie des Öfteren bedroht und als Homosexuelle beschimpft. Später wollen er und seine Freunde sogar Amir verprügeln, doch Hassan beschützt seinen besten Freund und schafft es, sie zu verjagen. Als Rache wird Hassan eines Tages von ihnen vergewaltigt. Amir beobachtet das Geschehen aus der Ferne, greift aber nicht ein – zu groß ist die Angst. Er sieht, wie Hassan nach einiger Zeit mit dem Drachen in seiner Hand zurückkommt, vielleicht ein Zeichen dafür, dass er ein großes Herz hat und diese Leidenschaft immer noch mit Amir teilen möchte. Hassan schweigt und erzählt niemanden von dem Vorfall. Doch das, was passiert ist, belastet ihre Freundschaft, denn Amir weiß, dass er seinem Freund zur Hilfe hätte kommen müssen, so wie Hassan ihm geholfen hat. Amir kann mit seinen Schuldgefühlen nicht umgehen und jubelt Hassan einen Diebstahl unter, den der fälschlicherweise zugibt. Weil die Anschuldigung sehr beschämend für Hassans Vater ist, verlässt er das Haus. Hier trennen sich die Wege der beiden.
Der Fluchtweg
und die Reise zurück in die Heimat
Die Flucht der Afghanen führt meistens über viele Umwege. Typischerweise geht es für sie zunächst nach Pakistan, um von dort aus weiterreisen zu können. Im Buch wird geschildert, wie mehrere Afghanen in einem Transporter über die Grenze gefahren werden. Immer wieder halten schwer bewaffnete sowjetische Soldaten sie auf und wollen beispielsweise mit einer der Afghaninnen schlafen – erst dann dürfen sie weiterfahren, andernfalls wird einer erschossen. Trotz der Lebensgefahr wehren sich die Ehemänner und riskieren lieber ihr Leben, als dabei zu zusehen wie ihre Frauen vergewaltigt werden.
Manchmal führt es sie auch nach Indien und schließlich in die USA oder nach Europa. Amir und sein Vater bauen sich nach geglückter Flucht ein neues Leben in Amerika auf. Er wird ein Schriftsteller, heiratet und lebt den amerikanischen Traum. Es wird kitschig und unrealistisch. Jeder Afghane der nach Amerika zieht baut sich im Nu ein traumhaftes Leben auf – Ich denke nicht, dass es so einfach ist. Khaled Hosseini versucht auf übertriebene Art und Weise zu zeigen, dass afghanische Flüchtlinge im fremden Land erfolgreich sein können. Es bestreitet auch niemand, dass es in einigen Fällen so kein kann.
Was aber im wahren Leben schon fast unmöglich ist und lächerlich erscheint, ist die Rückkehr von Amir nach Afghanistan und das, was ihm dort geschieht. Er klebt sich einen langen Bart ins Gesicht und kleidet sich traditionell, um nicht aufzufallen. Zu Zeiten der Taliban, die jegliche Modernität ablehnten, war es nämlich verboten, den Bart zu rasieren. Er trifft sogar den gewalttätigen Assef wieder, der sich nun den Taliban angeschlossen hat. Amir gerät in Konflikt mit ihnen, prügelt sich sogar und entkommt mit viel Glück. Wie witzig! Man hätte ihn eigentlich einfach erschossen.
Was aber absolut nicht lächerlich ist, ist, wie Afghanistan nach dem Krieg dargestellt wird. Männer mit russischen Waffen fahren mit einem Geländewagen langsam durch die Straßen. Eine Frau wird gesteinigt, weil irgendjemand behauptet hat, sie sei eine Ehebrecherin.
Die Taliban lassen nur das islamische Gesetz gelten, die Scharia, womit sie all ihre Taten rechtfertigen. Richtig, mit der eigentlichen Geschichte hat das wenig zu tun, ist jedoch für den Kontext wichtig, denn der Protagonist erlebt die Veränderung seiner Heimat mit allem, was dazu gehört.
Amir wird zum Helden, rettet den Sohn des verstorbenen Hassan, nicht nur ehemaliger bester Freund, sondern Halbbruder. Sie haben den selben Vater, wie Amir durch einen Brief erfährt. Er schenkt einem gebrochenen afghanischen Jungen ein neues Leben in Amerika und lässt mit ihm Drachen steigen, wie damals, mit Hassan.
Fazit
Natürlich kann der Kern der Geschichte nicht gewöhnlicher sein. Zwei Jungen, die in Afghanistan eine unbeschwerte Kindheit haben bis die Sowjetische Invasion eintritt und viele über Nacht fliehen müssen – beste Freunde werden getrennt und verlieren den Kontakt. Vielleicht mag der ein oder andere den Eindruck bekommen, dass der Autor, der übrigens selbst ein Afghane ist und in Kabul geboren wurde, Mitleid mit diesem Werk beim Rezipienten erzeugen will. Ich bin jedoch der Ansicht, dass er beabsichtigt anderen Menschen zu zeigen, wie es den afghanischen Menschen ergangen ist, die nun das Land nicht mehr wieder erkennen, das sie einst „Heimat“ genannt haben. Nun, für mich war es nicht nur die Geschichte der beiden Jungen, die mich so fasziniert hat, weil diese Liebe zwischen Hassan und Amir so barmherzig und gütig war, sondern auch die Art und Weise, wie der Autor dem Zuschauer einen einmaligen Einblick gewährt und das Land und ihre Kultur aus einer völlig anderen Perspektive zeigt, die so niemals in den Medien vertreten ist. Nämlich aus der menschelichen Perspektive. Dass viele Menschen getötet werden und dass ein normales Leben unter den katastrophalen Umständen kaum möglich ist, wird oft genug erzählt, aber endlich wird die Geschichte aus einer persönlichen Sicht beleuchtet. Es bietet sich auf diese Weise die Chance, das Geschehen aus dem Blickwinkel eines Betroffenen zu verfolgen.
Andererseits sind manche Stellen so banal, dass es fast wie ein Märchen wirkt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kampf Amirs mit den Taliban oder auch das auf Anhieb völlig sorglose Leben in Amerika – in der Realität haben die Afghanen meistens zunächst mit der neuen Sprache und Kultur zu kämpfen. Besonders dann, wenn sie wie Hassan nie die Chance hatten, zur Schule zu gehen.
Viele afghanische Flüchtlinge würden gerne einen armen Jungen mit nach Amerika nehmen, der nichts als Gewalt erlebt hat. Sie alle würden gerne den Kindern helfen, indem sie ihnen ein neues und vor allem schöneres Leben geben. Dieser Wunsch bleibt in der Realität meistens unerfüllt. Oft sind es Ärzte oder Unternehmer, die sich das ermöglichen können. Zum Glück gibt es Hilfsorganisationen und Vereine, die sich vor Ort um die Menschen kümmern.
Schöner Artikel. 🙂