Was nützt einem der eigene Verstand, mit dem man auf die tollsten Ideen kommen kann, wenn man keine Möglichkeit hat, andere Menschen von seinen Ideen zu überzeugen? Schlimmer noch: Was, wenn ich ein Produkt entwickelt habe, aber es nicht vermarkten kann? Was, wenn der Grund für dieses Problem ich selbst bin? Was, wenn ich einfach zu hässlich bin, um mein eigenes Produkt zu vermarkten?
Dies ist die Grundlage für Marius von Mayenburgs Komödie Der Hässliche, welche unter der Regie von Cordula Jung am Staatstheater Nürnberg wiederaufgenommen worden ist. Im Mittelpunkt steht Lette, welcher gerade einen neuen Stecker für seine Firma erfunden hat, welchen es nun auf einer Fachtagung zu präsentieren gilt. „Na, weil du einfach furchtbar hässlich bist!“Sein Chef Scheffler wählt dazu Lettes jungen Assistenten Karlmann aus, woraufhin ein klärendes Gespräch zwischen den dreien von Nöten ist. Dabei ist allen anscheinend klar, warum Lette seine eigene Erfindung nicht vorstellen darf. Bloß Lette selbst weiß es nicht, was ihm auch niemand sagen will. Ein anschließendes Gespräch mit seiner Ehefrau Fanny bringt endlich das zum Ausdruck, was immer wieder durch bitterböse Andeutungen dem Publikum längst klar war: „Na, weil du einfach furchtbar hässlich bist!“
Nach kürzerer Überlegung und Aussprache mit seiner Frau entscheidet sich Lette für eine Schönheitsoperation; der Knackpunkt: Weil der Chirurg keinerlei „Potential“ in seinem Gesicht sieht, muss Lette auf sein altes Gesicht gänzlich (durch Vertrag) verzichten und erhält eine Komplettsanierung. In einer aberwitzigen Szene wird solange an Lettes Gesicht herum gebohrt und geklebt, bis sich selbst der Chirurg ekelt. Das Ergebnis ist ein wahres Traumgesicht, das auch Fanny sichtlich gefällt, wobei sie ihren Ehemann zunächst nicht einmal erkennt.
Natürlich darf Lette nun auch zu der Tagung fahren und seinen neuen Stecker präsentieren. Dabei zieht er durch sein Gesicht, aber auch durch sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein die Aufmerksamkeit einer alten reichen Dame, welche äußerlich überhaupt nicht wie Mitte 70 aussieht, und die ihres Sohnes auf sich. Schnell wird klar, dass ihr Kaufinteresse an dem Stecker nur ein Vorwand war, um an das schöne Gesicht heranzukommen. Zwar möchte Lette ein treuer Ehemann sein, aber „dieses Gesicht, dieses Gesicht ist so einzigartig, dass es nicht nur einer Frau vorbehalten sein darf.“ Mit diesem Satz beginnt Lettes moralisches Dilemma.
Während der außereheliche Beischlaf mit insgesamt nun 25 Frauen Fanny überhaupt nicht gefällt, sieht Karlmann seine Chance gekommen, bei der Ehefrau seines Arbeitskollegen zu laden. Diese weist ihn jedoch mit einem dezenten Hinweis darauf ab, dass er nicht wie Lette aussehe. Zumindest läuft es auf der Arbeit gut, denn Karlmann entwickelte eine verbesserte Version des Steckers. „Aber das ist doch mein Gesicht!“Allerdings soll diesen nun Lette vorstellen, da er das schönere Gesicht hat. Kurzerhand landet auch Karlmann bei dem Chirurgen, der ihm ein neues Gesicht verpasst, welches zufälligerweise eine exakte Kopie des Gesichtes ist, welches Lette nun hat. Verwirrungen sind dadurch selbstverständlich vorprogrammiert.
Den Höhepunkt dieser Absurdität findet das Stück dann darin, dass die Reputation des Chirurgen immer weiter steigt und immer mehr Menschen sich ein neues Gesicht erstellen lassen wollen. Obwohl… nein, nicht irgendein neues Gesicht, sondern genau das, welches Lette neu erhalten hat. „Aber das ist doch mein Gesicht“, wundert er sich zurecht. „Nein, sie haben auf Ihr altes Gesicht verzichtet. Das ist mein Gesicht, mein Erfolg,“ erwidert der Chirurg sehr zutreffend. Da der Chirurg auch „kein anderes Gesicht kann“, gerät Lettes Innenleben immer weiter ins Chaos…
Der Hässliche im Staatstheater Nürnberg überzeugt vollends durch pointierte Dialoge und Aussagen. Wenn Scheffler zu Lette sagt, dass er seinen Stecker nicht vorstellen darf: „Mensch Lette, jetzt ziehen Sie doch nicht so ein Gesicht.“ Oder wenn Fanny das erste Mal Lette nach der Operation sieht und den Chirurgen fragt: „Darf man es auch anfassen? Bliebt das denn jetzt so?“ Schön ist auch, dass Lettes Stecker das Suffix „K“ trägt, während Karlmanns Stecker hingegen das Suffix „L“ trägt, also jeweils der Anfangsbuchstabe des Charakternamen des jeweils anderen.
Außerdem ist es die Liebe zum Detail, die der Inszenierung den letzten Schliff gibt. Dass jeder der Schauspieler mehrere Personen spielt (Lette taucht ja quasi mit zwei Persönlichkeiten auf) ist ein schönes Stilmittel, um die Verwirrungen der einzelnen Charaktere darzustellen. Dabei findet der Rollenwechsel durch ein schnelles Austauschen von Kleidungsstücken meist gleichzeitig mit einem fließenden Übergang der Szenen statt, was an Schnitttechniken von Filmen erinnert. Dadurch entsteht eine ungeheure Dynamik, die sich durch das gesamte Stück zieht.
„Aber Schatz, natürlich ist dein Gesicht hässlich, aber im Inneren – im Inneren finde ich dich sehr sehr schön.“Insgesamt hinterlässt „Der Hässliche“ einen vollkommen positiven Eindruck. Ich habe in einem Theaterstück lange nicht mehr so herzlich lachen können. Dennoch regt vor allem die zweite Hälfte des Stückes sehr zum Nachdenken an. Wer bin ich, und was will ich sein? Legen wir heute viel zu viel Wert auf das äußere Erscheinungsbild? Neigen wir immer häufiger dazu, uns selbst zu vermarkten? Vielleicht sollte man sich manchmal an die inneren Werte erinnern, genau so wie es Fanny sagte: „Aber Schatz, natürlich ist dein Gesicht hässlich, aber im Inneren – im Inneren finde ich dich sehr sehr schön.“
Der Hässliche wird in der Spielzeit 2014/ 2015 noch einmal am 02.12.2014 aufgeführt.
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