Leute, es ist Frühling! Und auch wenn ich glücklicherweise Zeit meines Lebens vor jeglicher Allergie bewahrt geblieben bin, so plagt doch viele in dieser Zeit, in der die Knospen und Blüten an den kahlen Bäumen und Büschen sprießen und die ersten Sonnenstunden des Jahres selbst den lichtscheuesten Stubenhocker aus seiner Höhle locken, ein hartnäckiger Heuschnupfen. Doch nicht nur der Heuschnupfen hat in dieser Zeit die Menschheit fest im Griff: Eine subtile, gespenstisch schleichende Manie breitet sich jedes Jahr erneut aus: Germany’s Next Topmodel geht in seine letzten Wochen. Das Umstyling ist überstanden, die Spreu vom Weizen getrennt, die blutigen Eskapaden in der Modelvilla vergessen und der alljährlich skandalöse Nippel geblitzt: Eine Show, die mich und Millionen andere Jahr für Jahr unterhalten hat (wobei man dem Dargebotenen natürlich stets süffisant lächelnd ob der eigenen Überlegenheit mit mächtig großer ironischer Distanz begegnet war) steuert auf ihr Finale zu. Doch dieses Jahr nicht. Nicht für mich. Es ist das erste Jahr, in dem mich die Sendung nicht nur wenig interessiert und ich sie sporadisch mitverfolge, sondern sogar aktiv boykottiere. Die Gründe, warum man der Sendung rund um die Auslese nach dem vermeintlich besten Model Deutschlands nichts als Boykott und Protest entgegenbringen sollte, sind so zahlreich, dass sie den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen würden. Daher möchte ich euch ganz einfach eine Alternative empfehlen, mit der ihr Heidi Klums Vermächtnis, bestenfalls am Abend seines großen Finales, substituieren könnt:

Qui êtes-vous, Polly Maggoo? ist ein Film, der mich einfach umgehauen hat. Auf einem abendlichen Streifzug durch die Arte Mediathek – fragt nicht – blieb mein Blick an einem merkwürdigen, avantgardistisch anmutenden schwarz-weiß-Thumbnail hängen, auf dem eine junge Frau mit dunklen Haaren und einem weißen Shirt mit der plakativen Aufschrift Polly vor einem Mann mittleren Alters posiert. Ich klickte und sah. Qui êtes-vous, Polly Maggoo? beginnt mit einer Situation, die zum Standardrepertoire eines jeden GNTM-Fans gehört: In einem futuristisch anmutenden Gebäude versammelt sich eine Menschenmenge, um Zeuge der neuen Kollektion des experimentellen Modeschöpfers Isidore Ducasse zu werden. Ein Walk! Nur, dass wir von Anfang an Teil dessen werden, was Qui êtes-vous, Polly Maggoo? schon in den 1960ern meisterhaft gelingt: Der Film parodiert die Modewelt der 1960er Jahre in überspitzter Weise, karikiert ihre Charaktere durch überzeichnete Figuren, übt jedoch auch Kritik – und das keinesfalls auf einer ironisch distanzierten Ebene. Ein Moment, der in der (übrigens visuell atemberaubenden) Eröffnungsszene heraussticht: Eines der Models fügt sich hinter den Kulissen aufgrund eines skurrilen Blech-Outfits einen blutigen Schnitt zu, der vom Modeschöpfer lediglich mit etwas Foundation überdeckt wird. Woraus die Germany’s Next Topmodel-Redaktion vermutlich einen in zahllosen tränenreichen Extra-Interviews aufgearbeiteten Skandal kreiert hätte, ist hier ein erstes Zeichen der subtil humoristischen Kritik am Modelbusiness: Die Aluminiumkreationen des Modeschöpfers werden als recreation de la femme gefeiert, und der Saal explodiert, als Isidore Ducasse ankündigt, die gleiche Kollektion als nächstes auch aus Kupfer anzufertigen. In der ekstatischen Menschenmenge pausiert das Bild und zoomt an das Gesicht einer jungen Frau an der Seite des Designers heran: Das amerikanische Model Polly Maggoo, gespielt vom tatsächlichen amerikanischen Model Dorothy McGowan, blickt verschwommen in die Kamera. 

Ab diesem Punkt möchte ich zwar nichts Näheres zur Handlung schildern, um diesen Artikel spoilerfrei zu halten, jedoch sei eines vorab erwähnt: Qui êtes-vous, Polly Maggoo? ist in seiner Erzählweise sprunghafter und scheinbar willkürlicher als Heidi in ihren Juryentscheidungen. Der Film springt (und etwas auch nur annähernd Ähnliches habe ich in einem Film aus den 1960ern noch nie gesehen) so mühelos von Erzählebene zu Erzählebene, von Träumen in die Wirklichkeit und wieder zurück, dass ich bei der ersten Sichtung doch recht schnell den Überblick verloren hatte: Ich gab mich dem wunderschönen schwarz-weißen Strudel aus Fotoshootings, Modenschauen, Redaktionssitzungen, Werbespots, Verfolgungsjagden, Traumsequenzen und – I shit you not – royalen Staatsbesuchen hin. Die übergreifende Handlung des Films lässt sich dennoch überraschend einfach zusammenfassen: Ein Fernsehsender dreht innerhalb der Interviewrubrik Qui êtes-vous? einen Beitrag über das berühmte Model Polly Maggoo. Hierbei nehmen wir als Zuschauer*innen sowohl an den zahlreichen (Nach-)drehs des Interviews, an verzweifelten Flirtversuchen seitens des Berichterstatters und an hitzigen Redaktionssitzungen teil. Grégoire, ein Journalist mittleren Alters, verliebt sich jedoch in das Model, und so stehen schon bald neben redaktionellen Treffen auch psychologische Tests mit der naiven Polly an. Zu allem Überfluss plant Prinz Igor, der Thronerbe eines kleinen Königreichs innerhalb des Ostblocks, Polly Maggoo zu seiner Prinzessin zu machen, und entsendet zwei vertrottelte Agenten nach Paris, die seinen Heiratsantrag überbringen sollen. 

Was jetzt nach einer biederen 60er-Jahre-Komödie klingen mag, bei deren Mangel an Originalität und Esprit selbst die Dramaturg*innen der GNTM-Redaktion enttäuscht abwinken würden, entwickelt sich jedoch zu einem derart absurden und teils surrealistischen Märchen, wie es sich in Worten kaum ausdrücken lässt. In Qui êtes-vous, Polly Maggoo? geht es nicht zwingend um die Handlung oder die Träume und Ziele der Figuren, diese sind nur Bausteine einer grotesken Karikatur über die modische Manie der 60er und vor allem über oberflächliche mediale Berichterstattung und das Feuilleton. Diese humoristische Abrechnung mit dem Trivialjournalismus findet in Qui êtes-vous, Polly Maggoo? auf äußerst kreative Weise statt: Ein Moment des Films, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist der, in dem Grégoire mit seinem Auto im Pariser Verkehrschaos stecken bleibt. Im Radio läuft ein Interview zweier Männer mit einer älteren Frau. Der Film schneidet nun in das Aufnahmestudio, in dem das Gespräch aufgezeichnet wird, führt die Konversation der drei Traditionalist*innen zu einer Pointe, und kehrt zurück zum eigentlichen Schauplatz, in Grégoires Auto. Auch Igors Träume von der Ankunft Pollys in seinem Königreich (und in seinen royalen Gemächern) zeigt der Film durch clevere Blenden, Schnitte und Collagen auf derart unterhaltsame und interessante Weise, dass es mir unbegreiflich erscheint, dass William Kleins Werk sich – ganz im Gegenteil natürlich zu Heidi Klum – mit großen Schritten seinem sechzigsten Geburtstag nähert. Hierbei erinnert Qui êtes-vous, Polly Maggoo? an die Filme von Godard, mich jedoch in besonderer Weise an Wes Andersons Werk, und ich glaube, mich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wenn ich behaupte, ich würde (fast) jede Wette eingehen, dass Anderson Polly Maggoo mindestens einmal in seinem Leben gesehen hat. Und wo wir bei Wes Anderson sind: Qui êtes-vous, Polly Maggoo? ist nicht nur aufgrund seiner jugendlichen Rasanz und Sprunghaftigkeit so unterhaltsam, besonders der äußerst trockene Humor und die Situationskomik (und hier betreten wir natürlich höchst subjektives Terrain) machen den Film zu einem meiner cineastischen Highlights des Jahres. 

Eine weitere Sache, deren Nennung mir fast so obligatorisch erscheint wie das Namedropping zahlloser Markennamen innerhalb einer Sendeminute von Germany’s Next Topmodel: Die Visualität des Films. Für ewig hängengebliebene Beatles-Hörer*innen wie mich ist Qui êtes-vous, Polly Maggoo? eine Goldgrube an Design, Make-Up, Mode und Ästhetik der 60er Jahre. Insbesondere ein etwas morbides Fotoshooting auf einem Friedhof kann mit einer bis heute interessanten, merkwürdigen Visualität aufwarten, welche GNTM wohl nie hervorbringen könnte. Qui êtes-vous, Polly Maggoo? ist visuell (bitte verzeiht mir diesen inflationär benutzten, umgangssprachlichen Ausdruck) ein absolutes Brett. Und da das Beschreiben von Bildern in Worten nur mäßig gut funktioniert, empfehle ich an dieser Stelle ganz einfach, sich den Film selbst anzusehen.

So endet dieser Artikel in einem ganz persönlichen Appell meinerseits: Auch wenn die klebrigen Tentakeln der Gewohnheit und jahrelange Tradition uns festhalten wollen, bleibt entschlossen! Lasst uns Heidi Klums Modelschule dieses Jahr mit nichts als Ablehnung begegnen. Lasst uns (bestenfalls am GNTM-Finalabend) nur einem Model zujubeln: Der Modeikone Polly Maggoo. Lasst uns abtauchen in ein irrwitziges, geistreiches, groteskes, kurioses schwarz-weißes Märchen. Lasst uns mutiges, kreatives Kino wertschätzen. Lasst uns, Polly Maggoo als Co-Jurorin an unserer Seite, vom Jurypult auf Heidi herabblicken, die unserem Blick mit einer Mischung aus hoffnungsvollem Augenöffnen und ängstlichem Einatmen begegnet, und lasst uns dieses Jahr gemeinsam verkünden: “Heidi, wir haben heute leider kein Foto für dich.”