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Vor kurzem hatte ich endlich Zeit gefunden, den neuen Film von Dan Kwan und Daniel Scheinert: Everything Everywhere All at Once im Cineplex Bayreuth zu sehen. Da der Film auch nach acht Spielwochen immer noch rege im Freund*innenkreis besprochen wurde, schien mir die Sichtung mehr als überfällig. Während der Vorstellung gab es dabei viele Dinge, die meine unmittelbare Aufmerksamkeit auf sich zogen: schnelle Schnitte, viele Effekt-Sounds und ein auffälliger, markanter Humor. Was mich allerdings besonders faszinierte, war Kwans und Scheinerts Annäherung an das Multiversum, welche mit einem materialistischen Anspruch einhergeht und den emotionalen Kern des Films auf bemerkenswerte Weise unterfüttert. Um diesen Punkt auszuführen, muss ich zunächst über die Philosophie des Materialismus schreiben:

Materialismus wird häufig in Kontrast mit Idealismus gestellt, da man sich bei beiden Perspektiven auf die Essenz der Dinge bezieht. Der*die Idealist*in würde einem Stuhl sein Wesen als Stuhl deshalb zusprechen, weil es ihm eingeschrieben ist. Die Dinge besäßen demnach also eine Art „Seele“. Die Materialist*innen widersprechen jedoch und postulieren, dass das Wesen des Stuhls sich über seine wahrnehmbare, physische Präsenz ergebe: Ich kann darauf sitzen, also ist es ein Stuhl.

Der französische Philosoph Louis Althusser arbeitete einen besonderen Materialismus heraus, der die Genese des Wesens der Dinge erklären soll. Er nannte diesen den Materialismus der Begegnung. Althusser bezieht sich dabei auf den griechischen Philosophen Epikur und seine Metapher des Regens. Vor der Entstehung der Welt gab es demnach bereits Atome, die alle perfekt parallel zueinander in ein unendliches Nichts fallen. Dadurch, dass sich die Atome nie berühren, fehlt ihnen jede Relation zueinander und dadurch wiederum fehlt ihnen der Referenzrahmen für ihre eigene Bedeutung. Die Welt ist also gefüllt mit allen Elementen, die aber noch ohne Wesen sind. Durch ein Clinamen, eine völlig zufällige Abweichung, wird einem Atom nun ein leichter Drall gegeben, gerade genug, um von seinem Kurs abzukommen und auf ein anderes zu treffen. Diese Begegnung, stellt die Atome in Beziehung zueinander und begründet eine Kettenreaktion. Plötzlich lässt sich eine logische Folge erkennen und die Welt, wie wir sie kennen, nimmt Gestalt an. Althusser ist hier jedoch wichtig, dass nichts davon passieren muss. Ein Clinamen kann passieren, oder eben auch nicht. Die Kontingenz, also die Nicht-Notwendigkeit ist die zentrale Achse des Materialismus der Begegnung. Auch ein Anhalten der Kettenreaktion ist nicht vorherbestimmt. Die Atome können sich jederzeit wieder verfehlen und die Welt wieder in den Zustand des epikurischen Regens zurückkehren. Diese Kontingenz und die daraus resultierende Flüchtigkeit bestimmt unsere Welt. Natürlich gibt es Naturgesetze und politische Systeme und Waschsalons, aber nichts davon muss so sein, wie es ist oder überhaupt existieren und nichts muss weiterhin so bleiben.

Wir weltlich gebundenen, einfachen Menschen können uns das alles zwar vorstellen, bleiben dem Ganzen aber, durch den hohen Abstraktionsgrad, ziemlich fern. Anders ist es aber mit Joy Wang aka Jobu Tupaki. Durch ein Übermaß an interdimensionalen Sprüngen wurde die Grenze ihres Ichs gesprengt. Jetzt nimmt sie Alles, Überall, Gleichzeitig wahr, was ihre alternativen Ichs gerade so anstellen. Joy ist mit der Kontingenz der Welt konfrontiert. Jede Entscheidung, jedes Ereignis hätte anders oder auch gar nicht passieren können. Unendliche Möglichkeiten, in denen die Begegnungen der Atome anders verliefen und Menschen mit Hotdog-Fingern, eine 2D-Zeichentrick Welt oder das Dasein als Piñata hervorbrachten. Joy sieht Epikurs Regen förmlich, wie er sich spontan neu verbindet und wieder löst. Angesichts dieser Loslösung von weltlicher Bedeutung verfällt sie in Nihilismus und versucht ihrem Bewusstseinszustand zu entkommen.

Althusser bezieht sich in seinen Ausführungen auch auf Heidegger, der die Denkfigur des Es gibt festlegt. Wir müssen gar nicht nach dem Sinn des Seins suchen, sondern finden ihn im Sein selbst. Es gibt uns und die Welt und das war´s. Die Kontingenz des Seins wird so eingefangen, da man den Fokus weg von möglichen Alternativen hin auf das unvermittelt Gegebene setzt.

Mit der Hilfe ihrer Mutter Evelyn findet Joy diese Einstellung, die dem Leben etwas positiver gegenübersteht. Evelyn sieht den ins Nichts fallenden Regen, entscheidet sich aber für das einfache Sein, für ihre Liebe zu den Menschen, die ihr nahestehen und zieht ihre Tochter aus dem Bagel des Todes heraus in ihre Arme. Auch hier findet eine Begegnung statt, die für Mutter und Tochter ein glücklicheres Leben zu versprechen scheint. Die Familie rauft sich so nach der Krise und dem Chaos zusammen. Aber wie jede Begegnung ist auch die von Evelyn und Joy von Kontingenz geprägt. Es gibt, aber es muss nicht bleiben. Und so schauen wir in den letzten Momenten des Films auf Evelyns Gesicht und müssen uns angesichts des Lärms unendlich vieler paralleler Existenzen eingestehen, dass die Begegnung nicht andauern wird. Der Lärm verhallt und ein Mitski-Song greift die tiefe Melancholie über die Flüchtigkeit der menschlichen Beziehung auf.