Vom 25.6. bis 4.7. fand in der bayerischen Hauptstadt das 33. Filmfest München statt. Trotz Hitzewelle brach man mit 80.000 Kinobegeisterten den Besucherrekord und öfter denn je standen Filmemacher im Anschluss einer Vorführung dem Publikum Rede und Antwort. Nachdem ich im letzten Jahr nur vom Eröffnungswochenende berichtete, ergab sich mir diesmal die Gelegenheit, über den gesamten Zeitraum 30 Filme aus allen Kategorien zu sichten. Das Programm hätte nicht abwechslungsreicher kuratiert sein können. Neues deutsches Kino, chinesische Historienblockbuster in 3D, einmalige Einblicke in die Kultur der Amazonasstämme, breit gefächerte Andy-Warhol-Hommage, neue Indie-Geheimtipps – das Angebot in wenigen Sätzen aufzählen zu wollen, wird dem Ganzen nicht gerecht. Deshalb beschränke ich mich, schweren Herzens, auf sechs Highlights, die sich jeder im Kalender anstreichen oder zumindest um einen offiziellen Kinostart beten sollte:
Der Nachtmahr
Die Masse hat es vielleicht noch nicht mitbekommen, doch der deutschsprachige Film erfährt gerade eine blühende Renaissance: 2013 gründeten die Münchner Regieneulinge Jakob und Tom Lass mit ihren Liebeseskapaden Kaptn Oskar und Love Steaks die ans dänische Dogma95 angelehnte FOGMA-Bewegung. 2014 überraschte Das merkwürdige Kätzchen der Berliner Schule in seiner Mischung aus kunstvoll-experimenteller und doch humoristischer Milieustudie auch das internationale Publikum. Und 2015 scheint ganz im Sinne des deutschen Genrefilms zu stehen, wie der Heist-Party-Thriller Victoria oder der Gruselschocker Ich seh, ich seh (Produktionsland Österreich) bereits eindringlich bewiesen. Der Nachtmahr ist nun fast wie eine Kombination aus letzteren: stroposkopische Sause und allegorischer Horror. Die 17-jährige Tina (Carolyn Genzkow) bekommt nach einer exzessiven Techno-Fete Wahnvorstellungen, dass sie von einem abscheulichen Untier heimgesucht werde. Trotz Psychiater und elterlicher Unterstützung weiß ihr niemand so recht zu helfen. Von Neonfarben durchflutet und in Weitwinkel-Einstellungen entrückt, katapultiert der Coming-of-Age-Alptraum dabei den Expressionismus der 1920er ins hedonistische 21. Jahrhundert – das ist das Land, aus dem Caligari stammt! Und in seinem sexuellen Sinnbild steht Der Nachtmahr auch dem just diese Woche anlaufenden US-Horror-Hit It Follows in nichts nach.
Der Nachtmahr hat noch keinen Kinostart.
Buzzard
Buzzard ist an der Oberfläche eine scharf beobachtete Alltags-Satire mit nerdigen Anspielungen, Mordssoundtrack, echtem Low-Budget-Charme, bitterbös-punkiger Provokation und einer der besten Spaghetti-Szenen aller Zeiten. Für mich entblößte sich unter dem Deckmantel der Komödie jedoch auch ein düsterer Einblick in die Extreme meiner Peter-Pan-Generation. Buzzards Haupfigur treibt die Whatever-Attitüde an die Schmerzgrenze. Marty Jackitansky (authentisch abstoßend: Joshua Burge) ist so ein Typ, dem man in der Schule vermutlich beachtliches Potenzial nachsagte, aber der Genugtuung darin findet, es daraufhin erst recht zu verschwenden. Ihm könnte die Welt nicht egaler sein, solang zuhause seine Games, Comics, Fast Food, Slasherfilme und Doom-Metal-Zudröhnung auf ihn warten. Die todlahme Arbeitsroutine als Teilzeitkraft eines Kreditinstituts durchsteht er mit harmlosen Systemtricksereien, beispielsweise wenn er Büroausrüstung auf Firmenkosten ordert und direkt im nächsten Schreibwarenhandel als Retoure vertickt, sein Bankkonto für schäbige 50$-Prämien schließt und neueröffnet, oder Coupons fälscht, um Gratispizzen abzustauben. Die Aufwand-Nutzen-Rechnung steht in überhaupt keinem Verhältnis und mit höherer Arbeitsmoral ließe sich auch “richtiges” Geld verdienen. Aber wozu? Der Kollege prahlt mit bevorstehender Beförderung, aber “wer will schon an so einen Scheiß-Job gefesselt sein?” Systemtreue ist zermürbend langweilig und Martys Hobbys sind ohnehin allesamt billig. Sein Traum, einen Nintendo Power Glove mit Freddy-Krueger-Krallen zu modden, ist einfach zu erfüllen. Seine (Pop-)Kultur predigt Trotz oder heißt ihn zumindest mit realitätsfliehender Gleichgültigkeit Willkommen. Spätestens als ihn einige üble Psychosen befallen, wird unmissverständlich klar, dass Buzzard nicht als zynische Geek-Komödie verweilt, sondern man wohl ein zutiefst pessimistisches, unglamuröses Update von A Clockwork Orange vor sich hat – und das nicht nur, weil sich beide Filme Spaghetti-Schweinereien teilen.
Buzzard hat noch keinen Kinostart.
Court
Zwei Wochen nachdem das Filmteam seine Veröffentlichungsfreigabe vom Zensuramt erhielt, gewann in der indischen Regierungswahl von 2014 die rechtsorientierte Partei BJP alleinige Mehrheit und führte rigorose Richtlinien für neue indische Filme ein – Court hatte es gerade noch geschafft, aber einen so politisch hochbrisanten Film wird es vorerst nicht wieder geben. Im tragisch-komischen Gerichtsdrama von Chaitanya Tamhane, Regisseur und Autor, verteidigt Rechtsanwalt Vinay Vora (Vivek Gomber) den angeklangten Aktivisten und Musiker Narayan Kamble (Vira Sathidar), der den Behörden seit Jahren ein Dorn im Auge ist. Sobald er eine Strafe abgesessen hat, buchtet man ihn umgehend für an den Haaren herbeigezogene Delikte wieder ein. Die kurze Zeit der Freiheit nutzt er für spontane Auftritte in Armenvierteln, seine Protestsongs machen ihn mit Zeilen wie “Time to know your enemy” zu einer Art Rage Against the Machine der indischen Folk-Szene. Als ein Arbeiter durch Giftgase in der Kanalisation ums Leben kommt, beschuldigt man Kamble des Aufrufs zum Selbstmord und es beginnt ein frustrierend langwieriger Prozess, obwohl alle Fakten für seine Unschuld sprechen. Man würde vom Regiedebüt eines 24-Jährigen spürbar mehr Wut erwarten, doch Court bleibt erstaunlich rücksichtsvoll und zeigt Verständnis für alle Beteiligten. Der Richter ist keine korrupte Systemkarikatur, die Staatsanwältin keine herzlose Ausgeburt des Bösen. Natürlich ist man als Zuschauer auf der Seite des zu Unrecht Angeklagten, doch Tomhane inszeniert ein humanes Gesellschaftsporträt, worin die Probleme in teils willkürlicher Tradition und hoffnungslos veralteten Gesetzen liegen. Nebenbei ist es nicht bloß Politkino, sondern auch humorvoller Einblick in indische Lebensweisen mit visuell überwältigendem Detailreichtum. Die 40 Szenen an realen Schauplätzen in Mumbai wurden fast alle in beeindruckenden One-Takes mit Laiendarstellern gedreht, wobei man (laut Q&A) für jeden Szenendreh jeweils einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Wer Indien im Film nur als tanzwütiges Bollywood kennt, sollte sich mit dem meisterhaften Court eines besseren belehren lassen.
Court hat noch keinen Kinostart.
Heaven Knows What
Heaven Knows What ist das beste New Yorker Drogendrama seit Jerry Schatzbergs Panic in Needle Park und erschreckende Erinnerung, dass sich das Leben von obdachlosen Heroinabhängigen im Jahr 2015 nicht sonderlich von 1971 unterscheidet. Obwohl Schatzbergs Film mit Al Pacino stark besetzt ist, ist Heaven Knows What für mich der bessere Film. Basierend auf Arielle Holmes‘ Buch Mad Love, schlüpft selbige in die Hauptrolle ihrer eigenen Lebensgeschichte. Noch während der Produktionsphase war Holmes obdachlos und Regieduo Ben und Joshua Safdie, die zuvor bereits Dokumentationen gedreht hatten, ließen sie mit einigen ihrer Szene-Freunde zusammenarbeiten. Das Ergebnis ist eine intime Tour de Force ins Leben der Verlorenen, die nicht über sondern direkt aus dem Milieu heraus erzählt. Es ist laut, nervig und kalt, aber auch einfühlsam und besinnlich. Weder glorifizierend noch herablassend wird aus dem Alltag der jungen Erwachsenen erzählt, die intensiver als alle anderen leben wollen – mit epischer Liebe, fataler Hingabe und den größten Highs. Die Einbindung von realen Schauplätzen auf den dreckigen Straßen New Yorks und die Arbeit mit am Existenzminimum verzweifelnden Junkies machen den Film zu einem schonungslosen Meisterwerk der Authentizität. Die Geschichte ist zwar überwiegend deprimierend, doch die Tatsache, dass mit Arielle Holmes eine der offensichtlich talentiertesten Jungdarstellerinnen die Filmwelt betritt, gibt Hoffnung und ist gleichzeitig Aufruf, dieses Milieu nicht zu ignorieren.
Heaven Knows What hat noch keinen Kinostart.
Arabian Nights: Volume 1-3
Während der aktuellen Griechenlandkrise hört man von Athenkritikern immer wieder die blasierte Bemerkung, ein einst bankrottes Land wie Portugal habe seinen finanziellen Tiefpunkt doch auch trotz Austerität überstanden. Für all diejenigen ist Miguel Gomes‘ dreiteiliges Magnum Opus jetzt ein 6-stündiges Ohrfeigen in drei Anläufen – hier funktioniert nichts mehr, eine ganze Nation versinkt in Absurdität. Im Q&A nach der Vorstellung erklärte der gebürtige Portugiese seine Unterscheidung von guter und schlechter Fiktion: Gute Fiktion gebe sich nicht als Realität aus und schlechte Fiktion seien schlichtweg Schwindeleien. In diesem Sinne beauftragte er mehrere vertraute Journalisten zwischen Juli 2013 und August 2014, nicht der fragwürdigen Medienberichterstattung zu folgen, sondern persönliche Erlebnisse der lokalen Bevölkerung zu recherchieren. Im resultierenden Arabian Nights bedient sich Gomes der Schachtelgeschichtenstruktur von Tausendundeine Nacht und verwandelt diese wahrhaftigen portugiesischen Vorkommnisse in märchenhafte Erzählungen Scheherazades. Der Vorlage treu wird somit kein dröges Thesenkino ausformuliert, sondern so wie die kluge Wesirstochter den König betört, kommt der Zuschauer in den Genuss einer faszinierenden Vortragsweise, die emotional ergreift, Augen öffnet und oft einfach mal grotesk-komisch ist.
So muss man schmunzeln, wenn Volume 1 mit der Flucht des Regisseurs vor seinem eigenen überambitionierten Projekt beginnt. Lauthals prustet man vor Lachen, wenn das portugiesische Äquivalent zur Drohnenüberwachung aus Spielzeughubschrauber mit GoPro besteht, aber der Verfolgte trotzdem ängstlich in einen Teich abtaucht. Man empfindet Trauer, als in drei Doku-Segmenten die Interviewten von ihrem Jobverlust berichten. Ständig wird man von surrealen Einschüben verblüfft, wenn ein Walinneres zur Notaufnahme umfunktioniert wird oder ein Hahn von brandstiftenden Kids erzählt. Man verliebt sich in die weise und wunderschöne Scheherazade, die vor Meerespanoramen zu 80er-Rockhymnen sonnenbadet. Man wird frustriert, wenn sich Misere und Schuldzuweisungen in einer Gerichtssitzung unaufhaltsam zu stapeln scheinen. Man langweilt sich auch mal, als im neo-realistischen Segment über das Leben im Wohnblock so rein gar nichts zu passieren scheint. Im letzten Volume fühlt man sich zwischenzeitlich sogar ein wenig verarscht, wenn Aufnahmen eines hitzigen Massenprotests mit der unharmonischen Voice-over-Narration einer Chinesin unterlegt werden, kurz darauf das Segment abgebrochen und das vorherige fortgesetzt wird, in dem es um einen albernen Vogelgesangswettbewerb geht, der neben einem lärmenden Flugplatz stattfindet und wo die ersten 10 Plätze allesamt Trophäen erhalten. Trollen auf dem nächsten Level?
Doch alles dient dem Wahrheitsbezug der jeweiligen Situation. Das mag auf sechs Stunden anstrengend sein, aber Gomes demonstriert seine Kunst durchweg visionär und stilsicher. Die malerischen 35- und 16-Millimeter-Filmaufnahmen verschmelzen förmlich Anachronismen mit Zeitlosigkeit, Realität mit Fiktion. Arabian Nights ist zugleich essenzielle Europageschichte, schönstes Märchenkino und überwältigendes Absurditätenkabinett.
Arabian Nights wurde vom Real Fiction Filmverleih gekauft, hat aber noch keinen Kinostart.
Tokyo Tribe
Tokyo Tribe war der größte Spaß, den ich je auf einem Filmfest hatte. Die japanische Manga-Umsetzung von Kultregisseur Sion Sono (Guilty of Romance, Love Exposure) ist eine brutal-nihilistische Hip-Hopera, ein Yakuza-Battle-Rap-Musical, das seine „Story“ fast ausschließlich in Martial-arts- und Wortgefechten vorantreibt. Ich besuchte die Vorstellung, um eine Genreneugründung zu bezeugen, aber keine Kritik hätte mich vorab auf den Mindfuck vorbereiten können, wenn man Tokyo Tribe tatsächlich erlebt. Statt sich auf Novitäten auszuruhen, feuert Sono aus sämtlichen Inszenierungstrickkisten mit elaborierten Plansequenzen zwischen Darstellermassen bei Lichterwahnsinn und rhythmischer Kameraführung. Die Eröffnungsszene allein ist ein Kunstwerk: In einem scheinbar fliegenden One-Take schwebt man durchs Viertel der Protagonisten, wechselt fließend von Nahen zu Totalen und entdeckt dutzende Details. Neonleuchten und Marktstände im nächtlichen Regen kosten das gesamte Farbspektrum aus, der Erzähler im grauen Hoody singt die Einleitung vor sich hin, eine rappende Granny legt am DJ-Pult auf und überall strotzt es vor Leben. Im Hintergrund wird eine frivol gekleidete Polizistin barbarisch misshandelt. Ja, der Film ist unverschämt irre. Auf dem barbusigen Oberkörper werden dann auch gleich mal per Kampfmesser die Frontlinien der einzelnen Tribes gezogen. Exposition auf der Exponierten – mal sehen, wann sich Erklärmeister Christopher Nolan sowas traut. Generell pfeift man im dystopischen Tokyo der nahen Zukunft auf Gender-Politik, was aber den weiblichen Charakteren auch sehr wohl bewusst ist: nach einer schmerzlichen Niederlage fordert Kickass-Dame Sunmi (Seino Nana) resigniert auf, doch einfach drauflos zu vergewaltigen. Bevor das Bandengemetzel im bizarren Finale doch noch eine geni(t)ale Wendung nimmt, die die Kriegszustände auf mehr als nihilistische Willkür zurückführt, gibt es fast zwei Stunden lang wummernde Hip-Hop-Tracks, atemberaubende Choreographien und zum Brüllen komische Überraschungen, wobei eine kleine beat-boxende Kellnerin noch nicht mal das Witzigste ist. Kultfilm des Jahres – Tokyo Tribe, never ever die!
Rapid Eye Movies bringt Tokyo Tribe am 16. Juli ins Kino, die Blu-ray ist bereits als UK-Import erhältlich.
Ein komplettes Ranking meiner Sichtungen findet ihr auf Letterboxd.
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