
Ich saß in der ersten Reihe und gestikulierte wild mit meinen Armen ein “Nein, bitte nicht!”. Die Situation war bizarr: Der Schauspieler am Bühnenrand zeigte grinsend auf mein Notizbuch und anschließend auf den Grill auf der Bühne. Erst dann realisierte ich die Ironie: Ich saß gerade mit einem Buch in einem Stück über Bücherverbrennung. Und obwohl ich ihm deutlich zu verstehen gab, dass mein Buch kein Teil der Aufführung werden sollte, war es eines meiner Lieblingsmomente des Abends.
Der Roman “Fahrenheit 451” sowie dessen Theaterfassung wurde von Ray Bradbury geschrieben. Es hatte unter der Regie von Andreas Merz (nach einem Konzept von Sapir Heller) am 26. April 2025 Premiere im Stadttheater Ingolstadt.
Das Theaterstück präsentiert eine dystopische Zukunft, in der Feuerwehr nicht mehr dafür da ist, um Brände zu löschen, sondern um Brände zu legen. Ziel dieser Brände sind hauptsächlich Bücher. Der Besitz von Büchern und das Lesen ist verboten, da dies zum Nachdenken und zu Unzufriedenheit anregen könnte. Die Hauptfigur ist ein Feuerwehrmann namens Montag, der Teil dieses Systems ist. Zu Beginn des Stückes trifft er auf Clarisse, ein Mädchen, das ihn mit Fragen durchlöchert und ihn damit das System hinterfragen lässt. Montags Frau ist tabletten- und fernsehsüchtig. Im Laufe des Stückes beschließt Montag, ein Buch zu klauen. Daraufhin wird er entdeckt, und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Was mir bei dieser Inszenierung des Stückes sofort aufgefallen ist, sind viele starke Kontraste. Diese zeigen den Unterschied zwischen dem vermeintlich schönem Leben im System und dem Zweifel auf der anderen Seite. Utopie vs. Dystopie, Gehorsam vs. Rebellion. Dabei verblasst die Ernsthaftigkeit nicht, sondern wird durch den Kontrast intensiviert. Es entsteht eine groteske Spannung zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, die verstörend wirkt.
Bunte Glitzerkleider in Neonfarben stehen im Vergleich zu einem Ascheberg auf der Bühne, der immer größer wird. Die freundliche, humorvolle Art der Feuerwehr steht im Kontrast zu ihren wortwörtlich vernichtenden Taten. Die lustige Choreografie der tanzenden Feuerwehr steht dem zweifelndem Montag gegenüber. Im Gegensatz zu vermeintlich glücklichen Kindern in System-Werbespots steht ein einziges mutiges Kind mit Buch auf der Bühne. Die 70er Jahre Hintergrundmusik der Werbespots steht im Kontrast zu dem drückenden Hintergrundsound, bei dem eine Frau mit ihren Büchern verbrannt wird.
Genau diese Gegensätze fande ich sehr ansprechend: Die fröhlichen Farben der einzelnen bunten Szenen machen das Dunkel der ernsten Szenen noch viel düsterer.
Ein weiterer auffälliger Aspekt dieser Inszenierung ist das bereits erwähnte Einbeziehen des Publikums.
Während des Stückes ist ein Feuerwehrmann mit einem Mikrofon in das Publikum gegangen und hat eine Frau nach ihrem Namen gefragt. Daraufhin folgte die Frage, ob sie zuhause ein Buch besitze. Sie stimmte zu. Der Feuerwehrmann hielt kurz inne, und sagte ihr dann, dass die Truppe nun ihre vollständige Adresse bräuchte. Später wurde ihr persönlicher Name in einer moralischen, schädlichen Rede der Feuerwehr wiederverwendet. Das hatte eine erschreckende Wirkung auf mich, da ein Name aus unserer Realität Teil der unterdrückenden Funktion wurde und dem System sogar half. Als die Feuerwehr später tatsächlich Bücher verbrannt hat, kamen Call and Response- Mottos dazu. Die Feuerwehr hat einzelne Dinge wie “GOETHE!” gerufen, und das Publikum sollte “BRENNT!” schreien. Obwohl bei dieser Aufführung noch viele Plätze im Zuschauerraum frei waren, hat dies gut funktioniert, und die Leute haben direkt mitgemacht. Das fand ich persönlich sehr erschreckend: Natürlich ist es allen bewusst, dass dies nur ein fiktives Theaterstück ist, aber trotzdem haben alle sehr schnell für einen vernichtenden Zweck mitgemacht.
Auch das Bühnenbild, das größtenteils einfach “nur” aus einer Leiter, einem Podest und einem Ascheberg bestand, enthielt interessante Überraschungen. Ab und zu fuhr eine Leinwand herunter, auf der Werbespots für das System in einem 70er-Jahre-Stil präsentiert wurden. Frauen wurden in diesen Videos wieder auf die Rolle der Hausfrau reduziert, und Kinder wurden bewusst für die Werte des Systems instrumentalisiert. Besonders erschreckend waren diese vermeintlich fröhlichen Spots nach schockierenden Szenen (z.B. als eine Frau mit ihren Büchern verbrannt wurde). Die Katastrophen wurden also schnell mit einer “heilen Welt” überspielt. Besonders spannend fand ich den Ascheberg: Ein circa 30 Zentimeter großer Berg, der sich im Laufe des Stückes vergrößerte, da jede Verbrennung einen Ascheregen zur Folge hatte. Je mehr Aktionen von der Feuerwehr gezeigt wurden, desto größer wurde der Ascheberg. Auch dies hatte eine starke symbolische Bedeutung: Die Vernichtung und den Tod.
Als Montag später aufgrund des geklauten Buches erwischt wurde, kam ein Kameramann auf die Bühne und filmte Montag und die anderen Feuerwehrmänner mit der Kamera. Dies konnte man live auf der Leinwand verfolgen. So wurde das Geheimnis von Montag öffentlich für alle detailreich zur Schau gestellt. Auch das Einbeziehen von den Seitenzungen der Vorbühne, die rechts und links in den Zuschauerraum hineinreichen, sowie ein Spielen vor dem Eisernen Vorhang boten Abwechslung. Dies stellte inhaltliche Perspektivwechsel (z.B. von einem friedlich lesenden Opa- ein seltenes, verbotenes Bild) auch mit einem örtlichen Perspektivwechsel dar. Das Bühnenbild bot also abwechslungsreiche Ideen durch örtliche Wechsel, den Einbezug von Medien, und der Weiterentwicklung von einzelnen Aspekten des Bühnenbildes.
Die meiner Meinung nach eindrucksvollste Szene in dem gesamten Stück fing mit einem circa 10-jährigen Mädchen an, das sich alleine mitten auf eine Bühne stellte. In ihren Händen hielt sie ein Buch, aus dem Licht in ihr Gesicht schien. Leise fing sie an, “The Hanging Tree” zu singen. Nach einer kurzen Zeit stellten sich weitere Statist*innen neben sie, ebenfalls von den Büchern in ihren Händen erleuchtet. Sie stiegen mit in das Lied ein, und gemeinsam sangen sie “The Hanging Tree”. Dieses Lied wird durch die Hunger Games-Geschichte stark mit Widerstand in einer düsteren Welt assoziiert. Die Weiterverwendung des Liedes zeigt, wie sich Motive der Kontrolle und Unterdrückung wiederholen können (diesmal nicht in der Hunger Games-Dystopie, sondern in der Fahrenheit 451-Dystopie). Es zeigt aber auch, dass kulturelle Güter wie Lieder und Geschichten diese Unterdrückungen überstehen können. Besonders eindrucksvoll fand ich an dieser Szene, dass selbst die Kinder einer Gesellschaft mit diesen düsteren Schicksalen konfrontiert sind, und sich teilweise alleine in einer dunklen Welt/auf einer dunklen Bühne zurechtfinden müssen und den Mut aufbringen, gegen die Verbote und Unterdrückung anzugehen.
Beim Schreiben dieses Artikels fiel mir auf, wie unfassbar vielseitig diese Inszenierung war: Es gab so viele unterschiedliche Symbole und Arten, wie diese dystopische Welt dargestellt wurde, dass ich gar nicht auf alles eingehen konnte.
Generell hat mir der Abend vor allem wegen der Vielseitigkeit und den vielen Details sehr gut gefallen. Es hat mich nicht mit einem komplett neuen Konzept umgehauen, aber durch viele kleine Details überzeugt und gut unterhalten.
Fahrenheit 451 wurde an dem Tag nach meinem Besuch das letzte Mal gespielt und kann somit leider nicht mehr gesehen werden. Insgesamt war es ein eindrucksvoller Abend. Um diesen Artikel mit den Worten von Montag’s Frau abzuschließen: “Wie absolutely crazy Bananas das alles war!”

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