Es war einmal…
…ein reicher Mann, der lebte lange Zeit vergnügt mit seiner Frau, und sie hatten ein einziges Töchterlein zusammen. Da ward die Frau krank, und als sie todtkrank ward, rief sie ihre Tochter und sagte: „liebes Kind, ich muß dich verlassen, aber wenn ich oben im Himmel bin, will ich auf dich herab sehen, pflanz ein Bäumlein auf mein Grab […]“ Nachdem sie das gesagt, that sie die Augen zu und starb; das Kind aber weinte und pflanzte ein Bäumlein auf das Grab und brauchte kein Wasser hin zu tragen, und es zu begießen, denn es war genug mit seinen Thränen.
– Gebrüder Grimm, Aschenputtel
Dezember ist nicht nur Weihnachtsmonat, sondern auch der Monat der Märchen. Nicht umsonst feiern die Gebrüder Grimm im Dezember den Jahrestag ihrer Kinder- und Hausmärchensammlung, welche im letzten Jahr erst 200 Jahre alt wurde. – Natürlich, denn was würde nicht besser unter den Weihnachtsbaum und zur besinnlichen Stimmung passen als Märchen mit einem Happy End. Wie bestellt, so sprießen die neuen Märchenverfilmungen an Weihnachten nur so aus dem Boden. Eines der bekanntesten – und gefühlt am meisten verfilmten – ist Aschenputtel. Ein Märchen, dass auch unter vielen verschiedenen Namen bekannt ist: Aschenputtel, Aschenbrödel, Cinderella…
Man führe sich mal zu Bewusstsein, wie weit die Faszination an dem Märchen reicht: Viele Storys basieren auf dem Cinderella-Prinzip. Die zu Unrecht behandelte, niedere Magd und der Prinz – das finden wir in vielen romantischen Komödien: Manhatten Love Story, Spanglish und großer Gott vergesst nicht Pretty Woman „walking down the street“! Auch im realen Leben stürzen wir uns nur zu gerne auf Cinderella-Stories: Denken wir nur an unsere bürgerlichen Sympathieträger, die in die europäischen Königshäuser einheiraten durften – Kate, Mette Marit… Und seien wir mal ehrlich, welche Frau träumt wohl nicht heimlich davon, dass ihr Ähnliches passiert.
Woher also kommt die Faszination an dem noch relativ einfachen Stoff des Märchens? Woher kommt die Faszination Cinderella?
Die Suche nach der Gerechtigkeit
Jeder kennt die Geschichte von Aschenputtel. Auch wenn die Versionen variieren, kann man sie im Allgemeinen auf folgenden Grundsatz runterbrechen: Ein moralisch guter Charakter, dem Ungerechtes wiederfährt (Eine Figur, die eigentlich aus der griechischen Tragödie kommt, nur dass der Unschuldige wegen eines Makels kein Happy End erfährt). In dieser einfachen Anlage steckt bereits unsere Faszination begründet: Jeder kennt das, jeder hat das schon einmal in irgendeiner Form erlebt – meine Güte, wer neun Jahre auf dem Gymnasium war, der war ständig auf der Suche nach einem komplementären Verhältnis von Persönlichkeit und Gerechtigkeit (Oder lebt mal in Franken, denn da erntet höfliches und richtiges Verhalten meist Beschimpfung). Jeder kann sich also mit Aschenputtel, Aschenbrödel, Cinderella und wie sie alle heißen identifizieren und an der Suche nach Gerechtigkeit des ungerecht behandelten Mädchens Mut schöpfen und sich am Happy End seelisch bereichern.
Ganz abgesehen von der eigenen emotionalen Verbundenheit bietet die Story so ein ständiges Spannungsfeld, welches die ganze Handlung durch die Länge des Filmes aufrecht erhält und pulsieren lässt. So fragt man sich bei Aschenputtel doch immer wieder, wieso sie nicht einfach auf ihren Anspruch als Tochter besteht – denn schließlich ist sie ja in jeder Version die Tochter des gut situierten Vaters und wurde nur in die Rolle der Magd hineingedrängt. Kein Wunder also, dass der Stoff in vielen Hollywoodromanzen oder schlechten Sat1-Filmen aufgegriffen wird.
Das Cinderella-Motiv lässt sich aber noch stärker weiterstricken. Einfach gesagt: Die Erfüllung seiner Träume trotz der vielen Barrieren, die dazwischen stehen. Eine gewisse Wiedergutmachung der jahrelangen Ungerechtigkeit. Der Belohnung des eigenen Kampfes. Das kann heute der kindische Wunsch sein, dass jemand in einem die Frau fürs Leben entdeckt oder persönlich bedeutsamere Träume, z.B. dass man mal diese oder jene Karriere erreicht.
Spieglein, Spieglein an der Wand…
…was ist das Tollste im ganzen Land?
Die Märchenverfilmungen häufen sich im Laufe der Zeit. Man hat Walt Disney, dann die nun aufstrebenden Hollywood-Trash- (z.B. Hänsel und Gretel – Hexenjäger) oder Fantasy-Verfilmungen (z.B. Snowhite and the Huntsman) und natürlich die ständigen Neuverfilmungen im Lande. Während die Öffentlich-Rechtlichen sich mit Märchenadaptionen und eigenen Märchenfilmreihen (z.B. ARD mit der Reihe „Sechs auf einen Streich“, in Zuge derer jedes Jahr an Weihnachten eine neue Auswahl an Märchen ausgestrahlt wird & ZDF mit „Märchenperlen“) bekriegen, stolpern sie dabei anscheinend über ihren eigenen Ehrgeiz: Die Adaptionen werden immer kitschiger und mit zu modernen Einschlägen, schlechten vereinfachten Plots und teils noch schlechteren Schauspielern produziert. Die eigentlich tiefenpsychologischen Motive hinter den grimmschen Märchen werden verklärt oder besser gesagt beinahe vollständig aus dem Märchen verbannt.
Auch Aschenputtel erging es da nicht anders: Auf Aschenputtel für das ZDF 2010 folgte Aschenputtel im ARD 2011 – für den Zuschauer, der die Zuordnung zu zwei verschiedenen Filmreihen übersieht, nur ein Grund zum Kopfschütteln, warum es nach einer halbwegs kreativen und witzigen Umsetzung nun das wesentlich schlechtere und nervendere Aschenputtel braucht.
Ganz ehrlich: Schön anzusehen und ein netter Zeitvertreib, aber das Herzblut schlägt dann doch eher für die Klassiker (Nein, natürlich nicht die, vor gemalten Kulissen und grauem Studiohintergrund, von denen man Augenkrebs bekommt) oder innovativen Verfilmungen. Von beiden habe ich jeweils eine Asche-befleckte Dame für euch im Gepäck.
Drei Haselnüsse für Aschenbrödel
Hach, was brauche ich dazu schon sagen?! Drei Haselnüsse für Aschenbrödel ist heute ein Kultfilm und wird als schönste Märchenadaption der Filmgeschichte gehandelt. Hört euch einfach die Filmmusik von Karel Svoboda an, dann erklärt sich alles. Jeder kennt es bestimmt und wer nicht, der hat eine sträfliche Lücke in der Allgemeinbildung und außerdem viele besinnliche Stunden verpasst, die man mit diesem Märchen verbringt. Wer dieses nicht mindestens fünf Mal mit seinen Lieben an Weihnachten gesehen hat, der kann nicht behaupten Weihnachten gefeiert zu haben (Wenn ihr also gerade eben bemerkt habt, dass ihr ein Grinch seid, empfielt euch Cindy Lou Who das Versäumnis gleich hier nachzuholen)!
Zwar haben wir es in dieser Adaption auch mit Linsen und Asche, Tauben und dem verlorenen Tanzschuh zu tun, jedoch wurden hier das grimmsche Märchen mit den Motiven des gleichnamigen Märchens von Božena Němcová kombiniert. Die magische Rolle nehmen die drei Haselnüsse ein, welche Aschenbrödel (Libuše Šafránková) indirekt vom Prinzen (Pavel Trávníček) selbst zugespielt werden. Durch die Nüsse mit Jagdkostüm, Tanz- und Hochzeitskleid ausgestattet und mit ihren treuen Begleitern, dem Pferd Nikolaus, dem Hund Kasperle, der Eule Rosalie und dem gutherzigen Kutscher Vinzek, trifft Aschenbrödel in drei (vier) ungewöhnlichen Situationen auf ihren Prinzen. Am Ende stellt sie ihm ein Rätsel, welches er zu entziffern hat.
Aschenbrödel suhlt sich nicht in Selbstmitleid und fügt sich der Ungerechtigkeit, die ihr teil wird. Sie darf reiten, schießen, den Prinz mit Schnee bewerfen und ihn an der Nase herum führen. Sie genießt lieber die Schönheiten der Natur und des Lebens und nimmt bewaffnet mit ihren treuen Freunden und mit bedachten Mundwerk die Suche nach ihrer Gerechtigkeit auf und trifft so – mehr oder weniger rein zufällig – auf den Prinzen. Sie ist jedoch kein Aschenputtel, welches leicht zu haben ist.
Den deutsch-tschechischen Film macht vor allem sein Witz aus. So tobt der bubenhaft-trotzige Prinz mit seinen zwei Begleitern lieber im Wald herum und spielt Fangen, als sich um seine Pflichten zu kümmern. Das gefällt dem Präzeptor natürlich gar nicht, doch Dank Übergewicht und seinem kleinen Pony kommt er den königlichen Ausreiser nie hinterher. Auch das Königspaar (Rolf Hoppe, Karin Lesch), hin und her gerissen zwischen elterlicher Strenge und Mitgefühl, sorgen für einige Schmunzler.
„Die Wangen sind mit Asche beschmutzt, aber der Schornsteinfeger ist es nicht.
Ein Hütchen mit Federn, die Armbrust über der Schulter, aber ein Jäger ist es nicht.
Zum Dritten: Ein silbergewirktes Kleid mit Schleppe zum Ball, aber eine Prinzessin ist es nicht, mein holder Herr.“
– Aschenbrödel – Drei Haselnüsse für Aschenbrödel
Auf immer und ewig
„But I must say, I was terribly disturbed when I read your version of the little cinder girl. […] Perhaps you will allow me to set the record straight? “
– Grande Dame – Ever After
Der Film beginnt damit, dass eine „Grande Dame“ den Gebrüdern Grimm die richtige Version des Märchens Cinderella erzählt – nämlich die Geschichte ihrer Vorfahrin, Danielle de Barbarac. Danielle (Drew Barrymore) ist eine ungewöhnliche Cinderella: In einem historischen Hintergrund – nämlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – eingebettet, ist sie emanzipatorisch und früh-aufklärerisch geprägt. Eine Cinderella, die sagt was sie denkt, Thomas Mores „Utopia“ zitiert, ihren Prinzen (Dougray Scott) mit Äpfeln bewirft und einen Dieb schimpft, ihn auch mal auf den Schultern trägt und ihn durch ihr fortschrittliches Denken gegen das französische Ständesystem dazu bringt, seine Bestimmung zu finden und umzudenken. Und das alles, ohne vor einem Haufen Linsen und Asche zu sitzen – jedoch darf natürlich die Glaspantoffel nicht fehlen!
Hier wird der Finger nicht nur auf das Thema „Gerechtigkeit“ gelegt, sondern geradezu hineingebohrt. Cinderella Danielle de Barbarac ist ein Mädchen, welches Ungerechtigkeit erfährt, nur weil ihr Vater sie im Tode liebte, die vor die Wahl gestellt wird, welche Erinnerungsstücke an ihre Eltern ihr bleiben dürfen, um dann doch beider beraubt zu werden, die ausgepeitscht wird, eingesperrt und schließlich auch noch wie eine Sklavin verkauft wird. Es ist eine wesentlich vielschichtigere Version um Cinderella, ganz ohne Magie und phantastischen Elementen und hebt so den Realismus, der hinter den Grimm’schen Märchens steckt, hervor.
Natürlich hat der Film auch an freudigen Momenten viel zu bieten. So findet der Zuschauer auch Leonardo Da Vinci (Patrick Godfrey), dem seine Mona Lisa geraubt wird, zum Verbündeten Cinderellas wird und schließlich das Kunstwerk seines Lebens schafft. Der Zwist zwischen dem Prinzen Henry und seinen königlichen Eltern (Timothy West, Judy Parfitt) endet mit amüsierten Gelächter über eine abgebrochene Hochzeit. Die Zigeuner dürfen am königlichen Maskenball teilnehmen und die zweite Stiefschwester wechselt die Seiten…
…auch hier am Besten der Hinweis: Den Film einfach anschauen!
Und wenn sie nicht gestorben sind…
…dann leben sie noch heute.
Ganz nach dem Motto wird es mit den Märchenadaptionen natürlich weitergehen. Vor Kurzem haben die Dreharbeiten der Aschenputtel-Realverfilmung von Walt Disney, directed von Kenneth Branagh mit Game of Thrones-Star Richard Madden alias Robb, gestartet. Helena Bonham Carter darf – ganz ungewöhnlich – mal die gute Fee spielen, während Cate Blanchett die Rolle der bösen Stiefmutter übernimmt. Wir dürfen gespannt sein, ob es auch dort ein Happy End gibt…
Und als es sich aufbückte, sah ihm der Prinz ins Gesicht, da erkannte er die schöne Prinzessin wieder und rief: „das ist die rechte Braut.“ Die Stiefmutter und die zwei stolzen Schwestern erschracken und wurden bleich, aber der Prinz führte Aschenputtel fort und hob es in den Wagen, und als sie durchs Thor fuhren, da riefen die Tauben:
„Rucke di guck, rucke di guck!
Kein Blut im Schuck:
Der Schuck ist nicht zu klein,
Die rechte Braut, die führt er heim!“
– Gebrüder Grimm, Aschenputtel