2. Juli 2010, KHG, 20:00.
Es ist bereits kurz vor acht, als die Tore zum Zuschauerraum geöffnet werden. In Reih und Glied tingelt das Publikum am Kartenabreißer vorbei, der zuvor schon an der Kasse gleich gegenüber saß und dieselben Karten unversehrt verteilte. Man nimmt Platz und langsam füllen sich die Reihen, bis keine Plätze mehr übrig sind, sich die Reihen aber immer noch füllen. Full House.
Dicht gedrängt sitzt man beinahe Arm in Arm und jegliche Zuluft wird verschlossen, bevor der erste Darsteller die Bühne betritt. Eines ist klar: es würde ein sehr schwüler Abend werden, zumal es einer jener Tage ist, an dem das Ozonloch ganz ganz groß erscheint.
Dass der Abend dann so heiß werden würde, ahnte wohl keiner.
Interessierte Blicke beobachten die erste Szene. Was hat Konstantin Srugies – Autor und Regisseur des Stücks – da wohl auf die Beine gestellt? Viele kennen den Theater- und Medien-Studenten, und wie es eben so ist, gibt es anfangs noch Gemurmel und Unruhe im Publikum. Doch spätestens als das erste Mal das schräge, kranke Surren aus den Lautsprechern schallt und dem Publikum die krasse Thematik des Stückes offen ins Gesicht wirft, scheinen die Puppenspieler hinter der Geschichte verblasst und nur die Bühne im Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.
Srugies Stück macht vor heißen Themen nicht halt. Wer leichte, seichte Kost erwartet – sagen wir eine süße, gesunde Banane –, wird definitiv stattdessen in einen faulen Apfel beißen. Gewalt, Sexualität, Ängste… Menschen die ihre eigene Existenz in Frage stellen. So heißt es einmal ganz treffend: Der Körper ist nur eine „Ansammlung von Fleisch. Was ist, wenn deine Seele Vegetarier wird?“ Natürlich ist das nur ein Aspekt von Aggregate.
Beinahe überfordert wird man von den vielen Gefühlen und Gedanken – zumal das Stück in drei lose zusammenhängende Episoden aufgestückelt ist. Oft fragt man sich im Theater: Was will der Regisseur mir damit sagen? Doch hier bei Aggregate fragt man eher: Was will er mir noch alles damit sagen? Wasser, Farbe, zerissene Kuscheltiere und Vergewaltigungen sind da beileibe nicht alles, das auf einem zu kommt. Weder leicht noch seicht.
Doch am auffälligsten ist der Text. Er fordert zwar viel Aufmerksamkeit und Konzentration, aber es lohnt sich: ein intelligentes, wahnsinnig differenziertes Spiel mit der Sprache, mit dem Inhalt, der Bedeutung und der Aussprache. Mal schnell, mal langsam, meist derb, mal gefühlvoll. Man sitzt und lauscht und denkt. Und nie fällt etwas aus der Reihe – es passt einfach. Die Darsteller werfen beizeiten mit Text geradezu um sich, ohne dass dabei der Reiz daran verloren geht.
Und dennoch ist es ein Abend des Schweigens. Ungewohnt still ist es im Publikum geworden und jeder scheint sich ein Stück weit in sich selbst zurückgezogen zu haben. Selbst als ein Gewitter aus den Lautsprechern ertönt und die Schwüle im Saal einen neuen Höhepunkt zu erreichen scheint, bleibt es angespannt ruhig. Fast nie gibt es Szenenapplaus, aber alles blickt konzentriert auf die Bühne. Bis zum bitteren Ende. Stille kann so schön sein!
Und dann, nach langer Zeit der Unterhaltung und des Nachdenkens – Black. Kurz ist es ganz still. Wo ist die Musik, die sonst immer zwischen den Szenen kommt? Ist das Stück zu Ende? Dann klatscht jemand und der Domino-Effekt ist perfekt: plötzlich klatschen alle. Ein ausdauernder Schwall von Händegeklapper und Rufen, die sich die Beteiligten auch redlich verdient haben – Aggregate ist zu Ende, die Premierenfeier kann beginnen.
Fazit: Ein schöner, nachdenklicher Abend, eine Affenhitze und ein durchgehend stimmiges Stück mit einer überwältigenden Sprache, das leider nicht immer nachvollziehbar war und seine Klasse nicht bis zum bitteren Ende halten konnte.
Doch solche Momente gehören eben auch dazu: „Aber die Pinguine: auch denen ist mal kalt.“
Also ich habe mich schon manchmal gefragt, ob das alles nicht „pseudo-intellektuelles Rumgewichse“ (Zitat aus dem Stück) ist. Ich sehe hier nicht unbedingt ein „wahnsinniges differenziertes Spiel mit der Sprache“, sondern eher einen Sturm von mittlerweile fast toten, weil abgenutzen, Metaphern, der zwar in den ersten Minuten durchaus beneindruckend ist, sich dann aber nach und nach in seinem Selbstzweck zu verlieren scheint. Die Schauspieler haben es zwar größtenteils geschafft, die überladene Bilderwelt recht intensiv zu vermitteln, aber letztendlich schaffen auch sie es nicht über die „hohle Poesie“ (Zitat Stück) hinaus Emotionen zu evozieren. Zumindest bei mir nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wenn das Stück uns damit konfrontieren wollte, dass unsere Sprache nur ein Bündel toter Silben ist, die nicht in der Lage ist unsere Existenz zu erfassen – so wie unser Körper ja nur eine Ansammlung von Fleisch ist und unsere Gefühle nur Reflexe – ja dann hat das Stück das vielleicht geschafft. Allerdings läßt die Inszenierung diese Vermutung etwas verblaßen.
Ja ja, das Leben ist eine Apokalypse, vor allem für uns privilegierte Jugendliche. Da darf die Liebe sicherlich fehlen, aber nicht eine gewisse Ironie, die die ach so schreckliche Tragik unserer Existenz unterwandert. Doch was das Stück mir vermittelt ist eher jugendlicher Zynismus als reflektierende Ironie.
Das soll das Stück jetzt nicht runtermachen, sondern lediglich auf seine – in meinen Augen – größte Schwachstelle hinweisen, die einige gute Regieeinfälle (wie den geschickten Einsatz von Musik und akkustischen Versatzstücken, v.a. in der Fernsehszene) und die weitestgehen gute Leistung der Schauspieler überschattet.
Der Text turnt an, die Bilder turnen ab.