Permanentes Singen statt Reden,Flash-Mob-artige Chorbildung von unbeteiligten Statisten und im Extremfall Männer, die mit einer Frauenstimme singen, während sie eine Frau spielen, die sich als Mann verkleidet hat. Keine Frage – die Opernwelt ist oft verrückt, das sollten gerade wir in Bayreuth wissen. Nicht nur die Inszenierungen sind häufig völlig absurd, sondern auch die Geschichten, die erzählt werden. Clive Paget vom australischen Musikmagazin Limelight veröffentlichte deshalb vor kurzem seine persönliche Top-Ten-Liste der abstrusesten Opern aller Zeiten. Aufgeführt sind die wildesten Stücke namhafter Autoren, in denen sich der Vorhang nicht eher senkt, als bis selbst die Kobolde noch eine Frau abbekommen. Doch kann uns Bayreuther Studenten und Wagner-Experten noch irgendetwas schocken? Ja, durchaus.
10. La Nonne Sanglante – Charles Gounod
Auf dem zehnten Platz landet La Nonne Sanglante (Die blutige Nonne) von Charles Gounod. Darin ehelicht der nicht besonders kluge Rodolphe statt seiner Geliebten, die sich als Geist einer ermordeten Nonne verkleidet hat, versehentlich das wahre Gespenst. Das geht natürlich nicht lange gut und als das Missgeschick endlich auffliegt, kündigt der erzürnte Geist an, Rodolphe auf ewig zu verfolgen, sollte er nicht den Mörder der Nonne zur Rechenschaft ziehen. In einer dramatischen Wendung entpuppt sich der Vater von Rodolphe als Mörder, opfert sich voller Reue, der Geist entschwindet und der vermutlich schwer kurzsichtige Held ist endlich mit seiner Liebe vereint. Musikalisch hat La Nonne Sanglante einiges zu bieten, doch trotzdem wurde das Stück bereits nach 11 Aufführungen aus dem Programm der Pariser Oper verbannt. Der Grund: „Überschreitung der Grenzen des guten Geschmacks.“
9. Die toten Augen – Eugene d’Albert
Nicht nur in La Nonne Sanglante gibt es nach der Hochzeit ein böses Erwachen. Auch in Die toten Augen von Eugene d’Albert führt ein erster klarer Blick auf den Partner zu einer furchtbaren Überraschung. Dabei hatte doch alles so gut begonnen. Die schöne, aber blinde Myrtocle hält ihren Gatten Arcesius für einen Traummann: Gutaussehend und noch dazu ein römischer Senator. Wie gerne würde sie ihn einmal sehen können! Da kommt es sehr gelegen, dass Jesus von Nazareth zur Stelle ist und Myrtocle fast schon im Vorbeireiten heilt. Er prophezeit ihr jedoch, dass sie ihn noch vor Sonnenuntergang verfluchen werde. Die überglückliche Myrtocle hört aber nicht auf die Warnung und macht sich für ihren Mann hübsch. Versehentlich umarmt und küsst sie jedoch den schönen Galba. Die Verwechslung kommt nicht von ungefähr, denn genau so hat sie sich ihren Gatten immer vorgestellt. Ihr wahrer Ehemann Arcesius stellt sich indes als grotesk entstelltes Wrack heraus und erwürgt Galba in rasendem Zorn. Um ihren Ehemann niemals wieder sehen zu müssen, schaut Myrtocle so lange in die Abendsonne, bis sie endlich wieder erblindet. Die Ehe ist gerettet.
8. Merlin – Isaac Albéniz
In der Oper Merlin von Isaac Albéniz hält der aus der Artus-Sage bekannte Magier die sarazenische Sklavin Nivian gefangen und lässt sie jeden Tag verführerisch tanzen, um eine Horde lüsterner Gnome von ihrem Goldschatz fortzulocken. Auf diese Weise bereichert sich Merlin jeden Tag aufs Neue an den Reichtümern der kleinen Lustmolche. Die verzweifelte Sklavin erhält eines Tages unerwartete Unterstützung von der Magierin Morgan le Fay, die ihr mit einer List zur Freiheit verhelfen möchte. Bei ihrem nächsten Tanz „erregt“ Nivian den alten Merlin, bevor sie wunderbar zweideutig darum bittet, seinen Zauberstab halten zu dürfen. Der Magier schöpft keinen Verdacht, überreicht ihr seinen Stab und macht sich zur Höhle der Gnome auf. Nivian rächt sich nun und sorgt mit einem schweren Felsbrocken dafür, dass Merlin so schnell nicht mehr wieder herauskommt.
7. Dinorah – Giacomo Meyerbeer
Auf dem siebten Platz landet Dinorah von Giacomo Meyerbeer, in dessen Verlauf die Titelheldin gleich zweimal vom Blitz getroffen wird. Glück im Unglück: Während der erste ihre Hochzeit ruiniert, das Anwesen der Familie zerstört und sie in den Wahnsinn treibt, hat der zweite einen rein positiven Effekt und bringt sie wieder zu Verstand. Bis zum heilsamen zweiten Einschlag jedoch wandert die wahnsinnige Dinorah ziellos mit einer Ziege durch die Landschaft. Ihr Verlobter Hoël sucht währenddessen nach einem sagenumwobenen Schatz, auf dem ein Fluch lasten soll: Der erste, der ihn berührt, muss sterben. Hoël möchte daher keinesfalls der Erste, sondern lieber der Zweite sein und lässt sich deshalb vom einfältigen Dudelsackspieler Corentin helfen. Ein Jahr ist eine lange Zeit und so erkennt Hoël seine Verlobte Dinorah auch dann nicht wieder, als sie eines Tages im Hochzeitskleid vor ihm steht. Das Trio folgt nun der Ziege, die sie zum Schatz führen soll und damit völlig überfordert ist. Ein Gewitter zieht auf, der Damm bricht und der zweite, heilsame Blitz zeigt seine Tücken und reißt Dinorah in die Fluten. Hoël erkennt seine Verlobte an ihrem Halsband wieder, rettet sie und alle machen sich singend und tanzend zur Kapelle auf. Die Schatzsuche wird aufgegeben. Doch ein Wermutstropfen bleibt: Die Ziege hat es nicht geschafft.
6. The Poisoned Kiss – Ralph Vaughan Williams
Die Oper The Poisoned Kiss von Ralph Vaughan Williams führt uns einen Vater und Schwiegervater vor, den wohl niemand geschenkt haben möchte: Dipsacus, seines Zeichens Magier, dessen tiefe Liebe zu Königin Persicaria unerfüllt blieb und der nun auf Rache sinnt. Zu diesem Zweck zieht er seine Tochter Tormentilla mit Blausäure und anderen Giften groß, damit jeder auf der Stelle zugrunde geht, der sie küsst. Dipsacus hofft, dass der Sohn der Königin den aufgedunsenen Lippen zum Opfer fallen wird. Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden Teenager verlieben sich ineinander, können einander nicht widerstehen und schließlich sackt der Prinz in sich zusammen. Doch Königin Persicaria hat den Plan des Magiers schon längst durchschaut und zog ihren Sohn mit Gegengiften groß. Es kommt zu einer Massenhochzeit: Persicaria verzeiht Dipsacus am Altar, Tormentilla schließt den genesenen Prinzen in ihre giftigen Arme und sogar die drei als Journalisten verkleideten Kobolde von Dipsacus finden ihr Glück und teilen die Spioninnen der Königin unter sich auf. Happy End!
5. Maria de Rudenz – Gaetano Donizetti
Auf dem fünften Platz landet die Oper Maria de Rudenz von Gaetano Donizetti, in der die Liebe einfach nicht totzukriegen ist. Corrado erlebt mit Maria von Rudenz eine heiße Affäre, doch als die Eifersucht ihn übermannt, überlässt er sie in den Katakomben Roms dem Tod und macht stattdessen ihrer mächtigen Cousine Matilde den Hof. Zehn Jahre später laufen die Hochzeitsvorbereitungen der beiden auf Hochtouren, als Maria plötzlich wieder auftaucht und Corrado zurückgewinnen will. Der hat sich aber in der Zwischenzeit nicht grundlegend verändert und sticht sie nieder. Maria rafft sich jedoch wieder auf, völlig bandagiert, und treibt sich als vermeintlicher Geist im Schloss herum, während sie immer wieder „Corrado“ schreit. Der hat genügend andere Probleme und ersticht einen Nebenbuhler im Duell, um endlich heiraten und Schloss Rudenz erben zu können. Die unkaputtbare, zunehmend wahnsinnige Maria hat währenddessen Matilde aus dem Weg geräumt und erscheint im Hochzeitskleid zur Feier. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung will Corrado sie aber immer noch nicht. Erst als sie sich ihre Verbände vom Leib reißt und langsam verblutet, verliebt Corrado sich in sie. Zwar stirbt Maria im Moment des Triumphes, doch die Moral bleibt bestehen: Hartnäckigkeit zahlt sich letztlich eben aus.
4. L’Étolie – Emmanuel Chabrier
König Ouf hat es in L’Étoile (Der Stern) von Emmanuel Chabrier wahrlich nicht einfach. Jedes Jahr begeistert er das Volk an seinem Geburtstag mit einer feierlichen Hinrichtung, bei der das Hinterteil des Verurteilten aufgespießt wird, doch in diesem Jahr findet er einfach keinen Delinquenten. In seiner Not wandert der König verkleidet durch die Straßen und hofft darauf, von irgendjemandem beleidigt zu werden. Als sich die ihm versprochene Prinzessin Laoula unsterblich in den Rumtreiber Lazuli verliebt und der ihm bei einem Streit auch noch zwei saftige Ohrfeigen verpasst, scheint das diesjährige Opfer endlich gefunden zu sein. Der Geburtstag des Königs hätte so schön werden können, doch in letzter Sekunde weissagt der Hofastrologe, dass Ouf genau vierundzwanzig Stunden nach Lazuli sterben wird. Das Gesäß des Vagabunden bleibt daher verschont und der König sperrt ihn stattdessen in einen goldenen Käfig, um sich ein möglichst langes Leben zu garantieren. Lazuli langweilt der Luxus, er flieht mit seiner geliebten Prinzessin Laoula und sie erleiden Schiffbruch. Während die Prinzessin unbeschadet zum König gebracht wird, bleibt Lazuli verschwunden. Ouf betrinkt sich hemmungslos und möchte zumindest an seinem letzten Tag mit Laoula verheiratet sein, als plötzlich Lazuli wieder auftaucht und droht, er werde sich umbringen, wenn er seine große Liebe nicht zur Frau nehmen dürfe. Der König hat keine andere Wahl und stimmt zu, denn der nächste Geburtstag kommt bestimmt.
3. Das Nusch Nuschi – Paul Hindemith
Von ein paar Details einmal abgesehen wäre Das Nusch Nuschi von Paul Hindemith auch ein tolles Stück für die Augsburger Puppenkiste: DerDiener Tum Tum wird damit beauftragt, vier Frauen aus dem Harem des Kaisers zu beschaffen und sie zu seinem heiß begehrten Herren Lord Zatwai zu geleiten. Plötzlich taucht das Untier Nusch Nuschi auf, halb Ratte, halb Krokodil. Es hat aber nur einen tragisch kurzen Auftritt, da der betrunkene General Kyce Waing stolpert und es mit seinem breiten Kreuz zerquetscht. Tum Tum eilt dem zu Tode erschrockenen General zu Hilfe, trifft mit seinen Schlägen aber ausschließlich ihn und nicht das Ungeheuer. Kyce glaubt aber fest daran, dass Tum Tum heldenhaft sein Leben gerettet hat und stellt ihn in seinen Dienst. Während Lord Zatwai eine Dame nach der anderen in seinem Gemach empfängt, wird Tum Tum wegen ihrer Entführung vor Gericht gestellt. Er gibt wahrheitsgemäß an, ausschließlich auf den Befehl seines Herren gehandelt zu haben und dass sein derzeitiger Herr Kyce Waing sei. Der unschuldige General wird daraufhin vom Kaiser zur Kastration verurteilt, kann darüber aber nur herzhaft lachen. Wieso? Nun, als der Henker das Urteil vollstrecken will, muss er feststellen, dass Kyce bereits entmannt ist. Alles singt und tanzt.
2. Die Gans von Kairo – Wolfgang Amadeus Mozart
Don Pippo, Sammler von Raritäten, hat es in Die Gans von Kairo von Wolfgang Amadeus Mozart wirklich nicht leicht mit den Frauen. Seine große Liebe will nichts von ihm wissen und seine Tochter hat keinerlei Interesse an Graf Lionetto. Dabei hat der Graf ihm im Gegenzug zur Hochzeit doch die goldene Gans aus der Schatzkammer Kleopatras versprochen! Was tun? Kurzentschlossen sperrt er die zwei Damen in einen streng bewachten Turm ein und wettet ohne ersichtlichen Grund mit ihren beiden jungen Verehrern, dass sie es nicht schaffen werden, sie vor den geplanten Hochzeiten in einem Jahr zu befreien. Top, die Wette gilt! Monat um Monat verstreicht, doch alle Versuche, die gefangenen Frauen zu befreien, schlagen fehl. Am Tag der Hochzeit nutzen die beiden Männer aber ihre allerletzte Chance: Einer der beiden schafft es, sich in einer mechanischen Gans, die als Geschenk türkischer Gesandter ausgegeben wird, Zutritt zum Anwesen zu verschaffen. Derweil lässt Graf Lionetto ausrichten, dass er gar kein Interesse mehr an einer Ehe mit Don Pippo‘s Tochter habe. Nun ist der große Auftritt der „trojanischen Gans“ gekommen: Sie prophezeit dem völlig verängstigten Don ein schnelles Ende, sollte er ein weiteres Mal heiraten, und hält zum krönenden Abschluss um die Hand seiner Tochter an. Der Don kommt zwar hinter den Schwindel, doch lässt er die jungen Verliebten gewähren. Bei der nun folgenden dreifachen Hochzeit ehelicht er seine Ex-Frau, die dem jungen Liebesglück mit ihrer Schnapsidee von der Gans auf die Sprünge geholfen hat.
1. La Wally – Alfredo Catalani
Den ersten Platz auf der Liste der verrücktesten Opern ergattert La Wally von Alfredo Catalani: Die stets spontane Femme fatale Wally wird von ihrem reichen Vater dazu aufgefordert, Gellner und bloß nicht den Erzfeind Hagenbach zu heiraten, auf den sie ein Auge geworfen hat. Wally weigert sich strikt, schmettert ihre berühmte Arie „Ebben? Ne andrò lontana“ und geht in die Berge. Ein Jahr später ist der Vater verstorben und Wally hat sein gesamtes Vermögen geerbt. Bei einer Feier trifft sie ihren geliebten Hagenbach wieder, der sich aber nur wegen einer Wette einen Kuss von ihr abholt. Wally fühlt sich entwürdigt und fordert von Gellner, wenn er sie denn wirklich liebe, dann solle er Hagenbach töten. Gesagt, getan. Als Hagenbach der enttäuschten Wally folgen will, wird er von Gellner in eine Schlucht gestoßen. Wally bereut ihre Worte, schnappt sich kurzerhand ein Seil und rettet Hagenbach. Die Schuldgefühle fressen sie jedoch immer weiter auf und sie zieht sich in eine einsame Berghütte zurück. Der wieder genesene Hagenbach klettert zu ihr, sie gestehen sich ihre Liebe und alles scheint wieder gut zu sein. Dann geht aber alles ganz schnell. Hagenbach wird von einer Lawine in den Abgrund gerissen und Wally, spontan wie eh und je, springt hinterher, nur dieses Mal ohne Seil.
Die vom Musikmagazin Limelight aufgelisteten Opern erzählen herrlich durchgedrehte Geschichten, sind aber musikalisch auf höchstem Niveau. Da wundert es auch nicht, dass die meisten von ihnen auch heute noch regelmäßig aufgeführt werden. Abgesehen von einigen Ausnahmen wie Manon Lescaut gibt es ja auch generell kaum Opern, denen nicht etwas Groteskes, Verrücktes oder Paradoxes innewohnt. Oft ist das Überschreiten der Grenzen unserer Realität sogar die Voraussetzung dafür, dass eine Oper spannend und unterhaltsam gerät. Die Welt, in die wir uns von den Arien tragen lassen, ist ein wunderbar skurriler Ort, an dem sich überforderte Ziege, Nusch Nuschi und die Gans von Kairo gute Nacht sagen.
Nooin, die Ziege hat es nicht geschafft?? Hätte ihr die mechanische Gans nicht helfen können??
ich scheine eine schwäche für skurrile Tier-Opern zu haben! Vielen dank für diesen bunten Einblick!
habe auch mal eine sehr unterhaltsame Don Carlos-Aufführung gesehen: Ein kleiner Asiate in Daunenjacke spielte Don Carlos, hielt ein kleines Messerchen in die Luft und besang dabei sein mächtiges Schwert^^
Hab mir in Berlin mal ne moderne Aufführung von Hamlet reingezogen. Ich weiß zwar nicht mehr viel wegen des Traumas, aber ich kann mich an Fontänen aus unter den Achseln geklemmten Milchtüten und Suhlen in Dreck erinnern. Ok, war eher ein Theaterstück. Verdammt. Wollte das trotzdem mal loswerden (zwecks Verarbeitung und so).
What the fuck