Nach ungefähr vier Jahren in der Entwicklung und mehreren Verzögerungen, ist es nun endlich soweit: Gemeinsam mit Cuphead und seinem Bruder Mugman können sich Spieler*innen in ein neues Abenteuer stürzen. Cuphead – The delicious last course, entwickelt von dem kanadischen Indie-Unternehmen “Studio MDHR” , wurde am 30. Juni 2022 veröffentlicht und dient als Erweiterung des Grundspiels, vollgepackt mit neuen Figuren, Fähigkeiten und Feinden. Die Begeisterung über die neuen Inhalte zeigt sich auch in der Fan Community, mit insgesamt über eine Millionen verkauften Einheiten schon wenige Tage nach dem Releasedatum.

Abgesehen von repetitiven, jedoch grandios designten, Boss-Kämpfen und einer sehr einfach zu folgenden Geschichte, brilliert Cuphead mit dem allgemeinen Design und visuellen Stil. Angelehnt an die “Golden Age of Animation” haben sich die Brüder und Entwickler Chad und Jared Moldenhauer an die Kurzfilmanimationen der 1930er orientiert. Dabei nehmen die Cartoons der Fleischer Studios eine enorme Rolle ein. Schon als das Grundspiel 2017 veröffentlicht wurde, sprachen Kritiker*innen von einer “Nostalgiebombe” und es wurde beschrieben als “bursting with retro nostalgia”. Aber kann man hier von richtiger Nostalgie sprechen? Denn schließlich sind die meisten Spieler*innen zu jung um die 1930er selbst miterlebt zu haben.

Das Wort Nostalgie kommt aus dem altgriechischen und wird zusammengesetzt aus “nostos” und “algos”, was soviel bedeutet wie Rückkehr und Schmerz. Im späten 18. Jahrhundert beschreibt der Schweizer Arzt Dr. Johannes Hofer mit dem Begriff Nostalgie eine Krankheit, welche bei im Ausland stationierten Soldaten auftrat, wodurch die Nostalgie als eine Form des Heimwehs diagnostiziert wird. Die von Ärzten klassifizierte psychische Krankheit konnte man immer häufiger bei Soldaten sehen, die den glauben an die Rückkehr nach Hause verloren hatten. Im 20. Jahrhundert schaffte der Soziologe Fred Davis eine Definition von Nostalgie, welche grundlegend war für unser heutiges Verständnis des Begriffs. Der Duden beschreibt Nostalgie als “[…] von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert […]”.

In verschiedenen Studien fanden Psychologen, dass die Nostalgie ein universelles Gefühl ist, das jeder Mensch auf der Welt erlebt und nicht unbedingt erst ab einem gewissen Alter eintritt. Sogar Kinder im Alter von 7 Jahren haben sich nostalgisch im Bezug auf vergangene Geburtstage oder Urlaube geäußert. Durch diese Studien konnten auch verschiedene Funktionen der Nostalgie zugeordnet werden. Zum einen dient die Nostalgie der Gefühlsregulation, egal ob durch glückliche oder traurige Erinnerungen. Zum anderen ist die Nostalgie unglaublich wichtig als ein soziales Gefühl. Sie hilft uns, uns gemeinsam mit anderen Menschen zu verbinden oder auszutauschen. Sie tritt auch häufiger ein wenn Menschen längere Zeit beispielsweise ausgeschlossen aus sozialen Kreisen sind, ein Gefühl, dass wir nach den letzten zwei Jahren alle gut nachvollziehen können. Nostalgie hilft uns auch auf einer existentiellen Ebene das eigene Leben zu kontextualisieren und eine Art positiven Sinn des Lebens zu schaffen. 

Den Aufschwung der Amerikanischen Animationsindustrie beginnend in den 1920ern wird auch oft die “Golden Age of American Animation” genannt, welche beispielsweise durch die Looney Tunes von den Warner Brothers Studios oder dem Kurzfilm Steamboat Willie von Disney Cartoons gekennzeichnet sind. Die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre zwang die US-Amerikanische Gesellschaft nach einer Ablenkung des alltäglichen Leidens. Ihr Blick fiel dabei auf das Kino, indem sie sich zumindest für eine kurze Zeit der Realität entnehmen konnten. Jedoch schwappte auch die Aussichtslosigkeit und Müdigkeit der Menschen in die Animationsindustrie über. Max Fleischer und sein Studio kreierten in seinen Animationen ein realitätstreue Welt. Eine Welt, die dunkel und gebrochen war, visuell gezeichnet von der Krise mit teilweise sehr absurden und (von heute aus gesehenen) problematischen Anspielungen. Wohlgemerkt befinden wir uns in einer Ära in der die Filminhalte noch nicht so streng geregelt wurden wie mit dem 1934 eingeführten Hayes Code. Während Mickey und Minnie Mouse durch ihre fast schon märchenhafte Idealwelt spazierten, trieben sich die Fleischer Starfiguren wie beispielsweise Bimbo the Dog in einer heruntergekommenen und verlassenen Stadt umher. Mit deutlich anzüglicheren Themen und Anspielungen füllte sich die Welt der Fleischer Studios, wie die Figur Betty Boop, die heutzutage immer noch als Verkörperung der Weiblichkeit und Sexualität eingesetzt wird.

Mit dem sogenannten “Rubberhose Style” schufen die Künstler (hier bewusst nicht gegendert) der Studios einen vorerst standardisierten visuellen Stil und kreierten damit auch maßgeblich den sozialen Ruf der Trickfilme der in weiten Teilen bis heute andauert. Was diesen Stil ausmacht, ist, dass alles mit einer gewissen “Gummihaftigkeit” ausgestattet ist – wie ein Gartenschlauch. Dazu kommen die vielen verschiedenen animorphen Gegenstände, die sich verwandeln können und die heutzutage klassische Cartoon Klischeés erfüllen, wie zum Beispiel Hasen, die sich in Rollschuhe verwandeln oder ein Messer, welches mit einem Mund nach den Figuren schnappt und beißt.

Exakt diese Ästhetik verkörpert auch Cuphead im gesamten Spiel. Die Spieleentwickler*innen wollten ein Spiel erschaffen wie es in den 1930ern entstehen würde und haben dabei kein einziges Detail ausgelassen. Dafür waren auch einige Fleischer Studios Filme ein starkes Vorbild, wie zum Beispiel “Swing You Sinners!”. Anstatt wie heutzutage üblich die Animationen des Spiels digital zu kreieren, wurde jede Animation per Hand auf dem Papier gezeichnet und mit 24 Frames pro Sekunde animiert. Danach wurde es auf dem Papier “geinkt” (was soviel bedeutet wie dass die Animation/Bilder durch einen dickeren Stift finalisiert werden) und anschließend eingescannt. Der einzige Schritt, bei dem das Studio von den klassischen Methoden der Animation abweicht, ist das Einfärben, da dies digital gemacht wird anstatt auf dem Papier. Die einzelnen Bilder der Animation werden dann aneinander gesetzt und von der Game Engine in der richtigen Reihenfolge abgespielt. Interessant dabei ist, dass die einzelnen Animationen zwar auf 24 Frames pro Sekunde animiert wurden, aber um ein flüssiges Spielerlebnis zu bekommen man im besten Fall 60 Frames pro Sekunde hat. Daher werden die einzelnen Frames der Animationen immer leicht verzögert wiedergegeben um ein schnelleres Spiel zu ermöglichen.

Cuphead und Ms. Chalice kämpfen gegen Glumstone The Giant in dem Level „Gnome Way Out“

Aber nicht nur bei der Animation hört die Liebe zum Detail von Studio MDHR nicht auf. Alle Hintergründe des Spiels wurden auch zunächst mit Wasserfarben auf Papier gemalt und daraufhin eingescannt. In manchen Leveln des Spiels sieht man auch eine Anlehnung an die sogenannte “Setback Camera” welche damals von Max Fleischer entwickelt wurde. Dafür wurden reale Modelle gebaut wie zum Beispiel die Pyramide in dem Level “Pyramid Peril” und diese wurde dann mit einer im Kreis fahrenden Kamera fotografiert um die Illusion der Bewegung wie im Stop-Motion Trickfilm zu erzeugen. Auch die Soundgestaltung passt in die Ära der 1930er, denn hier wurde das Meiste mit Foley Technik, dem “Geräusche Machen” umgesetzt.

Cupheads Musik ist in vieler Hinsicht fast schon eine genauso erstaunende Leistung wie die Animation. Kristofer Maddigan schrieb für das Spiel insgesamt fast 5 Stunden an komplett neuen Jazz und Bigband Rhythmen. Maddigan selbst sagt, er habe nicht direkt für die einzelnen Level Musik geschrieben, sondern wollte einen “Vibe” erschaffen und für ihn stand einfach nur die Big Band Musik im Vordergrund. Im September 2019, zwei Jahre nach der Veröffentlichung, erreichte der Cuphead Soundtrack den Platz 1 der Jazz Charts; dies war das erste Mal, dass ein Videospiel Soundtrack so etwas im Bereich Jazz erreicht.

Doch warum spüren so viele Menschen die Nostalgie der 1930er Jahre wo doch die Welt nicht wirklich gut aussah?

Die Antwort dazu hängt nicht unbedingt direkt mit dem Zeitalter zusammen, sondern liegt bei der Assoziationen mit der Animation. Die heutige allgemeine Auffassung des Genres ist:      

Animation ist für Kinder und nur für Kinder. Obwohl man gerade aktuell immer mehr Gegenbeispiele dafür findet, ist das der vorherrschende Gedanke. Selbst in der Industrie wird dieses Narrativ weiter getrieben, z.B. wenn man sich die Laudatio für “Bester Animationsfilm” der diesjährigen Oscar-Verleihung anschaut. Jedoch hatte der Animationsfilm seinen Ursprung nie bei Kindern, denn die Golden Age of Animation sprach hauptsächlich erwachsene Kinogänger*innen an. Es war üblich vor einer regulären Vorstellung einen Trickfilm als “Vorspeise” zu zeigen, wodurch sich auch das Zielpublikum der Fleischer Studios erkennbar macht. Die düstere Welt, anzügliche oder sexualisierte Themen und groteske Handlungen sollten die erwachsenen Zuschauer ansprechen. Obwohl Walt Disney nie explizit anfing, seine Filme für Kinder zu produzieren, schaffte er über die Zeit hinweg durch seine idealisierte Welten und vor allem seine Aufarbeitung von Märchenden prominenten Gedankengang: Animation ist für Kinder gemacht. Mickey Mouse und seine Freunde verstärkten das noch weiterhin, unzählige Kinder wuchsen mit den Trickfilmen auf und verbinden den visuellen Stil stark mit ihrer Kindheit. Verstärkt wird das Ganze durch den sogenannten “Erinnerungshügel”, die Zeit zwischen dem Alter 10 und ca. 30 Jahre, in der viele formative und identitäre Erinnerung geschaffen werden, die man leicht wieder aufrufen kann. Hat man in seiner Kindheit somit viele Trickfilme mit der 1930er Jahre Ästhetik geschaut, wird man diese auch noch später mit seiner Kindheit in Verbindung setzen.

Genau das ist es auch, was Cuphead mit seiner Aufmachung in den Menschen auslöst. Es ist mitunter auch das Gefühl welches Chad und Jared Moldenhauer antrieb, das Spiel zu gestalten. Es ist das Gefühl was sie in Erinnerungen schwelgen lässt wenn sie von den reduzierten Fleischer Studios Cartoons in den Videotheken als Kinder erzählen. Durch viele verschiedene Anlehnungen und Easter Eggs spielt Cuphead an die Geschichte der Animation an. Vor allem aber durch den sichtbar analogen und handgemachten Stil, ist Cuphead für viele Menschen eine direkte Verbindung zurück in die Kindheit. Die Nostalgie für die Kindheit, eine Zeit, in der man unbeschwerter durch das Leben ging und nach welcher man sich auch zurück sehnt. Nicht zu unterschlagen sind auch Cupheads viele Hommagen an die Retro Videospielklassiker ebenso wie der Playstyle der an die frühen Couch Co-Op Spiele wie zum Beispiel Gunstar Heroes oder Contra III erinnert. All das ermöglicht Cuphead die Spieler*innen wieder kurzzeitig zurück in ihre Kindheit zu katapultieren. Zurück zu Erinnerungen, Freund*innen und Familie – wer möchte schließlich nicht noch einmal wie als Kind vor dem Fernseher sitzen und die Welt einfach vorbeiziehen lassen?

Bildmaterial © Studio MDHR