Viele werden sich jetzt vermutlich fragen, seit wann es einen Comic zur Elder Scrolls-Reihe gibt und wieso niemand etwas davon weiß. Nun, einen echten Comic gibt es tatsächlich schon seit Jahren (Redguard), aber der hat bei Weitem nichts mit dem zu tun, was C0DA für den Leser bereit hält – und das nur in Form eines Skripts.
Elder Scrolls | Michael Kirkbride
Das Elder Scrolls-Universum ist riesig, die Lore weitreichend und umfassend. Für Fans, die tief in diese Materie eintauchen wollen, liegen Hunderte von Büchern in der Welt von Tamriel herum, die nur darauf warten, verschlungen zu werden. Aber um dem einen oder anderen Leser, der kein riesiger Fan ist oder sich in der Welt einfach nicht so gut auskennt, diese lange Prozedur zu ersparen – hier die Grundzüge: Die Geschichte spielt auf dem Planeten Nirn, der von zwei Monden – Masser und Secunda – umkreist wird. Auf diesem Planeten existieren verschiedene Völker, die über Jahrtausende hinweg in Zankereien und Kriegen gelebt haben.
Die Zeit ist in Ären aufgeteilt: die Ära der Dämmerung und die merethische Ära stellen eine Art Vorgeschichte dar, einen Mythos, von dem keine schriftlichen Überlieferungen existieren. Darauf folgen die ersten vier Ären, gefüllt mit aufsteigenden und zerbrechenden Kaiserreichen, Dynastien und terroristischen Organisationen. Bethesda Softworks erlaubt es sich zwar des Öfteren, gewisse Aspekte der Lore zu ändern, da die Bücher ja von NPCs geschrieben worden seien und diese womöglich Fehler gemacht haben, aber die oben erläuterte grundlegende Lore ist Fakt (es sei denn, Bethesda hat wieder einen schlechten Tag und baut demnächst den größten Plot-Twist aller Zeiten ein).
Ob also ein gewisser Inhalt Canon ist, hängt ganz davon ab, ob Bethesda ihn als solchen akzeptiert oder nicht; es existiert sozusagen ein Lore-Kessel, zu dem nur das Entwicklerstudio Zugang hat.
Hier mischt sich Michael Kirkbride ein. Der ehemalige Mitarbeiter von Bethesda hat bedeutend die Lore der Elder Scrolls-Reihe mitgestaltet. Während der Entwicklung von Morrowind ist er allerdings ausgestiegen und trägt seitdem nur noch teilweise zu den Spielen bei. Das hindert ihn allerdings bis heute nicht daran, sich weiter mit der Materie zu beschäftigen, was irgendwann zur Entstehung von C0DA geführt hat.
Aber was genau ist C0DA denn jetzt eigentlich?
Der Name C0DA stammt von dem Begriff „Coda“ aus der Musikwissenschaft, der den angehängten, ausklingenden Teil eines Musikstücks bezeichnet, der oft Charakterzüge des ganzen Werkes in sich trägt. Diese Essenz findet man auch in Kirkbrides C0DA: es handelt vom Tod und der Wiedergeburt der Welt und spielt trotz eines abgeänderten Genres und Settings im Elder Scrolls-Universum. Leider ist C0DA bisher nur ein Skript für einen Comic und innerhalb von ein bis zwei Stunden zu lesen, doch hat es trotzdem eine immense Welle an Spekulationen, Fragen und Hype in den Foren ausgelöst.
Der Inhalt
Wir schreiben die fünfte Ära 911, springen aber oft zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Der Protagonist Jubal-lun-Sul befindet sich in seiner Heimat, dem Mond Masser, unter dessen Oberfläche Städte angelegt sind, die durch breite Tunnel miteinander verbunden sind. Ja, ganz Recht, C0DA spielt nicht auf Nirn – zu diesem Zeitpunkt ist Nirn nämlich ein zerstörter Planet. Vernichtet durch Numidium, eine mächtige Maschine, die in der Lore ein paar Mal aufgetaucht ist, Schaden angerichtet hat und wieder verschwand. Doch dieses Mal war der Schaden größer: die einzigen Völker, die sich auf den Mond retten konnten, waren die Dunmer und die Khajiit (wie sie das fertig gebracht haben, ist noch einmal eine ganz andere Frage). So entstand eine neue Zivilisation, Städte wurden gebaut und es wurde Frieden mit den Würmern geschlossen – den „Ureinwohnern“ Massers.
Nur während der „Landfall Season“ hat die Bevölkerung die Möglichkeit, die gefährliche, windige Oberfläche des Mondes zu betreten und in den Weltraum zu blicken. Jubal zählt zu den wenigen, die diesen Ausflug wahrnehmen, zusammen mit seinem Freund Hlaalu Hir. Die Szene wird in einer Rückblende erzählt, Nirns Oberfläche als steinig und feurig beschrieben, bespickt mit geisterhaften Zahnrädern und mathematischen Zeichen: „The planet has a ‚skeleton‘ inside it, an interlocking system of gear and pistons and wheels, half-here, half-not, overlaid with a nebula of mathematical equations that we can’t understand.“
Ab und an bekommt der Leser auch einen Einblick in das Geschehen auf Nirn vor der Apokalypse. Das „Tomorrowind“ (Applaus für diesen Wortwitz bitte) wird dargestellt als futuristische Gesellschaft, die Bewohner tragen Fernseher anstelle von Köpfen, die Götter und Halbgötter (oder wie auch immer man sie bezeichnen mag) Almalexia, Sotha Sil, Vivec, Molag Bal und Dagoth Ur („the Pseudo-6th-House“) betreiben eine Fernsehsendung und rufen Numidium herbei (wieso? Wer weiß, Einschaltquoten vielleicht). Alandro Sul, Jubals Vorfahre, ist live als Journalist dabei.
Zurück in der Gegenwart erfahren wir, dass Jubal bald heiraten wird und als Bedingung „nur“ ein Numidium töten muss (Die Verwirrung in meinen Augen beim ersten Lesen war groß. Ist sie immer noch). Zwischendrin passiert viel Tamtam: Drogen werden geraucht, man kauft ein und Jubal trifft sich mit dem dunmerischen Gott Vivec. Irgendwann werden Jubals Hände per Operation entfernt (Wieso? Besser nicht fragen). Als würde das nicht genügen, sitzt Jubal später auf einer Party an einem Tisch und bekommt abwechselnd Besuch diverser anderer Götter wie Akatosh und Talos, bis er mit letzterem die Oberfläche betritt. Die Gespräche, die Jubal mit ihnen führt, haben inhaltlich tatsächlich etwas mit der Lore zu tun und stellen womöglich Kirkbrides Sicht auf die geschehenen Ereignisse dar. Wieso um alles in der Welt Jubal aber überhaupt zu der Ehre kommt, sich mit Göttern zu unterhalten oder ob das reiner Alkoholeinfluss ist, steht in den Sternen.
Zu allem Überfluss sieht Jubal auf der Mondoberfläche das Numidium herumschweben, mit dem er erst mal ein langes Gespräch führt – wobei eigentlich nur Jubal redet, weil Numidium eine Maschine ist und de facto nicht reden KANN und nur mit leeren Sprechblasen um sich wirft. …Anfangs jedenfalls. Am Ende antwortet es doch und Jubal tötet es eiskalt mit einer leeren Sprechblase. Wem das nicht reicht, der soll erfahren, dass Jubal, als er wieder in seinem Haus ist, von Assassinen der Morag Tong angegriffen wird und sein alter Freund Hlaalu Hir unter den Mördern ist. Jubal tötet alle. Wer mir sagen kann, weshalb Hir einen Grund haben sollte, seinen alten Freund umzubringen, der soll sich bitte bei mir melden.
Numidium tot, Bedingung für die Hochzeit erfüllt: weiter geht’s! Auf der Hochzeit stellt man dann schließlich fest, dass die Braut Vivec in weiblicher Form ist; als Priester hat sich Lorkhan angeboten. In der Mythologie ist Lorkhan derjenige, der die Welt erschaffen hat und dem zur Strafe dafür das Herz herausgerissen wurde – daher klafft ein Loch in seiner Brust. Als sich Jubal und Vivec küssen, wächst die Wunde Lorkhans wieder zusammen. Das könnte eine Metapher dafür sein, dass durch die Vereinigung zweier Dunmer die zerstörte Welt wiedergeboren wird. Akatosh, der Gott der Zeit, der stets als Drache dargestellt wird, ist ebenfalls anwesend und beißt in seinen Schwanz. …Fängt also die Zeit seit Nirns Zerstörung wieder an, richtig zu laufen? Wenn man es so interpretieren möchte…
Canon?
Niemand außer vermutlich Kirkbride selbst kennt den wahren Kern hinter all diesen wirr erscheinenden Begebenheiten. Der meiste Inhalt bleibt spekulativ und man kann nur wild raten und sich sein eigenes Bild von den Fakten dieses fiktiven Werkes zu einem fiktiven Werk machen. Nicht umsonst zählt C0DA zu den „obscure texts“, also zu Texten, die rätselhaft sind und bis heute noch Fragen aufwerfen. Macht das überhaupt Sinn? Wird Nirn tatsächlich ausgelöscht? Wieso erscheint Vivec? Gibt es in Tamriel wirklich irgendwann Fernseher? Ist das Canon?
Genau mit dieser letzten Frage spielt Kirkbrides Text. In Internetforen wird viel spekuliert, wie realistisch C0DA ist und wie wahrscheinlich es ist, dass Bethesda die Texte als Canon zu ihrer Lore hinzufügt. Der am weitesten verbreitete Glaube ist aber, dass Kirkbride mit seinem Comic sagen will, dass so etwas wie Canon gar nicht unbedingt existiert. Er nimmt sich die Welt der TES-Reihe und fügt ihr eine weitere Geschichte hinzu, möglicherweise, weil er diese passend oder ansprechend findet. Dabei ist es ihm eher egal, ob sein Werk in die Lore aufgenommen wird – eigentlich ist C0DA auch gar nicht dafür gemacht, in die Lore aufgenommen zu werden.
Kirkbride will dem Leser zeigen, dass die Lore nicht festgeschrieben ist, sondern dass jeder das Recht hat, sie individuell zu verändern und zu interpretieren – was Canon ist und was nicht, tritt völlig in den Hintergrund. Man könnte C0DA sogar als eine Art Headcanon sehen. Kirkbride sieht gerne, wie auf Masser eine neue Zivilisation entsteht –gut, also schreibt er es sich so. Dass der Leser selbst die Lore mitgestalten kann, betont Kirkbride sogar explizit an einer Stelle, als er Vivecs Erscheinen beschreibt. Dort fügt er noch hinzu, dass es dem Lesenden freigestellt ist, noch mehr Details hinzuzufügen: „We’re staring at a god here. Nothing you add necessarily has to make sense.”
Was man nun mit C0DA anfangen soll, liegt bei einem selbst; ich für meinen Teil finde den Inhalt recht reizvoll (besonders die Fernsehsendung des Pseudo-6th-House), würde die Elder Scrolls-Geschichte aber eher anders fortsetzen. Trotzdem liebe ich den Gedanken dieser fluiden, verformbaren Lore, die Fans auf die abgefahrensten Ideen bringt und die zum Experimentieren mit dem festgesetzten Lore-Backstein einladen. Wer Lust bekommen hat, sich die „unmögliche“ Geschichte und andere tolle Sachen wie Cover der fiktiven Zeitschrift „Tomorrowind today“ anzusehen, dem hinterlasse ich folgenden Link, der in Ehren gehalten werden sollte: http://c0da.es.
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