Wir blicken durch die geöffnete Tür eines kargen, kleinen Zimmers. Auf dem Boden liegt eine Matratze, auf der sich wiederum eine junge Frau (Katharina Schüttler) räkelt. Daneben bekleidet sich ein junger Mann (Tom Schilling). Das Mädchen will, dass er noch ein wenig bleibt. Oder sie zumindest ein Treffen für den Abend vereinbaren. Er entgegnet, dass er los muss. Und nicht weiß, ob er am Abend kann. Termine und so. Aber irgendwie sieht dieser Kerl so gar nicht nach einem überfüllten Terminkalender aus. Was sowohl die Frau als auch der Zuschauer schnell realisieren.

Das Setting und die Optik der Charaktere in dieser Szene erinnern nicht von ungefähr an eine Sequenz aus Jean-Luc Godards legendärem Erstlingswerk „À bout de souffle“, in welcher Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg ein ähnliches Gespräch im und um das Bett herum führen. Wenn auch etwas ausgiebiger und mit umgedrehter Rollenverteilung. Den filmversierten Zuschauer jedenfalls bereitet diese Szene dadurch auf die kommenden 85 Minuten vor: Denn wie in Godards Klassiker lässt sich auch hier der Protagonist für den größten Teil des Films ziellos durch eine Metropole treiben. Nur handelt es sich in Jan-Ole Gersters „Oh Boy“ dabei nicht um das Paris der späten Fünziger, sondern um das Berlin des 21. Jahrhunderts. Auch ist der Protagonist in „Oh Boy“ kein exaltierter Draufgänger wie die impulsive Gangsterfigur Belmondos, sondern ein verwirrter Endzwanziger, der eigentlich keinen konkreten Konflikt in sich trägt. Er steht halt nur immer irgendwie „außerhalb“. Und findet einfach keinen Weg hinein

Konsequenterweise scheint er seit dem Abbruch seines Jurastudiums zwei Jahre zuvor auch keine Ambitionen zu besitzen, in irgendeiner anderen Karriere Befriedigung zu suchen. Auch zu dauerhafter zwischenmenschlicher Bindung zeigt er sich unfähig; so werden wir das Mädchen aus der Anfangssequenz nicht mehr wieder sehen. Der junge Mann, der übrigens den Namen Niko Fischer trägt, scheint sich überhaupt wenig darum zu kümmern, was gemeinhin als die Bausteine eines geglückten Lebens angesehen wird. Und er braucht auch kein Alibi, um seine Form der Existenz zu rechtfertigen; er ist kein Bohemien, der im Prekariatsleben nach Inspiration und Freiheit sucht oder dergleichen. Gerade das macht sowohl den Hauptcharakter als auch den Film so sympathisch: Erfrischend unmodern hofft Niko nämlich, die Antworten auf seine Fragen in Bezug auf sich selbst und seinen Platz in der Welt mal nicht bei der Suche nach der „richtigen“ Karriere automatisch mit zu finden. Denn mag die Berufswahl im Leben eines Menschen auch tatsächlich eine zugegebenermaßen große Rolle spielen, ist es doch ein Thema, das schon in zahlreichen anderen Entwicklungsgeschichten zu Genüge totgekaut und in seinem Stellenwert dadurch im Laufe der Zeit maßlos überhöht wurde. Umso angenehmer ist es, einen Charakter präsentiert zu bekommen, für den der Prozess der Selbstfindung primär die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zu ihm selbst und den Menschen um ihn herum bedeutet.

Überhaupt ist Jan-Ole Gersters Mut, auf jegliche Zeitgeist-Fixierung zu pfeifen, eine der großen Stärken des Films. Denn mag das von Jazzmusik untermalte Schwarzweiß-Bild des nachdenklich aus dem Fenster blickenden, eine Zigarette rauchenden Protagonisten auch noch so klischeehaft aufgeladen sein – es funktioniert einfach hervorragend. Die melancholische Schwarzweiß-Fotografie, besonders in Verbindung mit dem tollen Soundtrack, kann den Zuschauer ohnehin sehr schnell für sich einnehmen und erzeugt gerade mit den immer wieder in die Geschichte montierten Bildern der Stadt ein sehr atmosphärisches Bild Berlins, das in dieser Kombination aber irgendwie aus der Zeit gefallen scheint und so gar nicht zu den Vorstellungen eines Treffpunkts hipper, milchkaffeeschlürfender Szenetypen passt. In dieses Bild passt aber eben auch Niko Fischer ganz und gar nicht, was auf originelle und amüsante Weise in seinem Problem illustriert wird, nirgends in der Stadt mehr einen normalen Kaffee bekommen zu können.

Wie in der Kaffee-Episode, die sich durch den ganzen Film ziehen wird, bleibt dieser auf der narrativen Ebene auch sonst weitgehend unaufgeregt und alltagsnah. Niko durchläuft verschiedene Episoden, in denen er letztendlich trotz allem feststellen muss, dass er nicht immer konstant in seiner reflektierenden Beobachterrolle verharren kann. So beispielsweise, wenn eine alte Klassenkameradin auftaucht, welche die Gemeinheiten, die sie von ihm und seinen Freunden in der Schule ertragen musste, nun als Schauspielerin auf Off-Theater-Bühnen zu verarbeiten versucht. Wie man sieht, wird auch in den Zeichnungen der Figuren um Niko herum das ein oder andere Klischee bedient. Und in den meisten Fällen schadet das dem Film in keiner Weise; so zum Beispiel auch in der Szene, in der Nikos Sehnsucht nach Zuneigung in seiner Begegnung mit der liebevollen Oma einer seiner Freunde einen rührenden Ausdruck findet. Der Erfolg in diesem Umgang mit etablierten Typen ergibt sich dabei zunächst aus den größtenteils sehr überzeugend geschriebenen Dialogen und auch an den durchweg starken schauspielerischen Leistungen. Gerade Tom Schilling zeigt mit seiner Fähigkeit, Emotionen nicht durch große Gesten, sondern kleine Nuancen in der Mimik auszudrücken, wie gutes Kinoschauspiel aussehen sollte und kann. Allerdings erhebt vor allem auch das spürbar große Interesse, das Jan-Ole Gerster diesen Figuren entgegenbringt und die liebevolle Zeichnung ihrer Charaktere diese über den Status von Karikaturen. Gerade diese Fähigkeit zur Einfühlsamkeit mit den eigenen Figuren ist eine Eigenschaft, die leider vielen Regisseuren der Gegenwart abhanden geht und die dieses Debüt so vielversprechend macht und auf mehr freuen lässt.

Man muss jedoch zugeben, dass nicht alle Figuren des Films ohne Einschränkung funktionieren. Der exzentrische Theaterregisseur und die im Straßenslang pöbelnden, Schnaps aus Flaschen saufenden Halbstarken beispielsweise sind dann doch zu stereotyp und unoriginell präsentiert, als dass sie dem Film etwas Positives beitragen könnten. Aber diese kleinen Schwächen werden spätestens mit der Schlussepisode mehr als nur wettgemacht. Als Niko nämlich in einer dieser wundervoll stimmig arrangierten Szenen alleine an der Bar einer kleinen Kneipe sitzt, kommt ein verschrobener, einsamer alter Mann (Michael Gwisdek) zu ihm und erzählt Niko seine Geschichte. Die kurz darauf vor den Augen des Protagonisten endet.

Als Niko am Ende dieser Nacht endlich seine heiß ersehnte Tasse Kaffee erhält, ist, außer eben dem Kaffeeproblem, nichts gelöst. Aber warum auch? Am Ende einer Geschichte, die so nahe am Leben geschrieben zu sein scheint, wäre ein alles erklärender Abschluss wohl sowieso unbefriedigend.