Mit Anna Karenina hat der „Meister“ des Kostümfilms Joe Wright nach Stolz und Vorurteil und Abbitte nun Lew Tolstois großen Schicksalsroman „Anna Karenina“ wieder auf die Leinwand gebracht. Der Stoff wurde bereits mehrere Male verfilmt, doch Joe Wright hat eine beeindruckende Neuinterpretation geschaffen, in welcher der Realismus der literarischen Vorlage gänzlich durch Künstlichkeit verdrängt wurde.

Es ist schwierig, Worte zu finden, die den Film Anna Karenina angemessen beschreiben können, dennoch möchte ich es versuchen. Am einfachsten kann man sagen: Anna Karenina ist ein opulentes Kostümdrama, dessen Prunk jedoch nie übertrieben wird. Tiefer betrachtet: Die Raffinesse des Filmes ist eindeutig die Inszenierung der Geschichte. Das Leben Anna Kareninas wird als Theaterstück in einem fiktiven Theater inszeniert und thematisiert somit die Aufführung. Fast der komplette Film findet auf der Bühne oder abwechslungsweise in den angrenzenden Räumen des Theaters statt. Ein Theaterpublikum selber gibt es nicht. Die Schauspieler spielen vor einem leeren Zuschauerraum, nutzen selbigen oder spielen,während Putzfrauen das Theater für die Nachtruhe vorbereiten.

Wer denkt, dies würde irgendwann langweilig werden, der lasse sich überraschen: Aufwendige Montagen oder einfach geschickte Kameraschwenks lassen die Szenerien auf der Bühne schnell wechseln. Kostüm- und Kulissenwechsel sind meist sichtbar. Es werden Türen geöffnet und man findet sich plötzlich in anderen Räumen an anderen Orten wieder. Auch verändern sich die Räume schlagartig oder gehen übergangslos in eine andere Szenerie über, so dass aus dem Theatersaal plötzlich ein prunkvoller Opernsaal wird, in dem die Protagonisten selbst einem Stück lauschen, oder ein Bahnhof in den Bühnenaufbauten des Theaters entsteht. Spannend ist, dass sich dieser Aufführungsaspekt gegen Mitte des Filmes allmählich „verläuft“ und die Aufführung immer mehr Realität wird, um gegen Ende wieder intensiever aufgegriffen zu werden. Aus dieser aufregenden Art der Inszenierung und Gestaltung ergibt sich eine fantastische Bildgewalt, an der ich mich kaum satt sehen konnte.

Um den Aufführungscharakter zu unterstreichen, dürfen natürlich talentierte Schauspieler nicht fehlen, die es perfekt verstehen, die intensive Spielweiße eines Theaterschauspielers nachzuahmen, aber im Rahmen Film nicht lächerlich wirken zu lassen. Vor allem Matthew Macfadyen (zweites Bild unten), dem Literaturverfilmung-Liebhaber als Mr. Darcy in Joe Wrights Stolz und Vorurteil bekannt, glänzt zwar nicht als Vorzeigemann Darcy, dafür mit seiner wunderbaren Schauspielkunst, während er Anna Kareninas Bruder Oblonski verkörpert. Auch Jude Law beeindruckt als Karenin (drittes Bild unten). Und auch wenn ich Keira Knightley bisher gerne auf der Leinwand gesehen habe, vor allem in ähnlichen Gesellschaftsdramen wie Stolz und Vorurteil, die Herzogin, Abbitte und Marie Antoinette, so wurde mir während des Films erst bewusst, welch glänzende Schauspielerin Keira Knightley doch ist, da sie mit einer Intensität Anna Karenina verkörpert, die bewegt (erstes Bild unten).

Die Thematisierung des Theaters im Film bietet dem versierten Theater- und Medienwissenschaftler auch umfangreichen Stoff zur Analyse. Der Film öffnet mehrere Deutungsperspektiven, warum Joe Wright eine so ungewöhnliche Art der Inszenierung dieses Dramas anwendet: Thematisiert das Theater die Bühne der Gesellschaft, deren scharfen Blicken und von Norm bestimmten Rechtsverständnis Anna Kareninas Verhalten ausgesetzt ist, weswegen die Szenen, in denen Anna sich mit Liebhaber Wronski trifft, auch im Freien, weit ab von der Gesellschaft spielen? Oder dient das Theater als Schaubühne für den Prunk der russischen Gesellschaft zur Zarenzeit, welcher heute längst Vergangenheit ist und deshalb es im Film selber kein Theaterpublikum gibt, sondern nur wir, als moderne Zuschauer des 21. Jahrhunderts dem Schauspiel lauschen? Oder soll es wirklich nur das künstliche Gegenstück zur vom Realismus geprägten literarischen Vorlage sein?

Ich bin mir sicher, Joe Wrights Anna Karenina wird noch das ein oder andere Mal Gegenstand einer Diskussion oder einer Hausarbeit sein. Ich für meinen Teil kann behaupten, schon lange nicht mehr von der filmischen Inszenierung einer bekannten Geschichte so überrascht worden zu sein und kann jedem, dessen Interesse nun geweckt worden ist, empfehlen, sich den Film noch anzuschauen.