Eine große Wiese, gesäumt von den schönsten orange-roten Ahornbäumen, die der kanadische Herbst mit sich bringt. Zeitlupe. Mitten auf der Wiese steht Hubert (Autor, Regisseur und Darsteller Xavier Dolan, Jahrgang ’89), 17 Jahre alt, am Waldrand eine Braut. Es ist seine Mutter. Sie rafft das üppige Kleid zusammen und läuft davon.

Ein weißer Ballen Tüll inmitten goldenen Waldes. Hubert hinterher, er versucht sie einzuholen, ihre Hände berühren sich, entgleiten einander, sie stößt ihn von sich, rennt weiter.

Mit der Hauptgeschichte hat dieser Abschnitt nicht viel zu tun – er ist einer von Huberts Gedankengängen, die manchmal abrupt das Geschehen unterbrechen, den Zuschauer in Huberts wirre Gefühlswelt katapultieren. Aber stets Gedankenfilmchen, die den zentralen Konflikt des Films weiterspinnen, nämlich das unsagbar schlechte Verhältnis zwischen dem Einzelkind Hubert und seiner alleinerziehenden Mutter Chantale (Anne Dorval). Im Wechsel mit alten Erinnerungen, optisch mit Gelbstich, wie 15 Jahre gelagerte Familienvideos. Mutter und Sohn rennen gemeinsam über eine Wiese, ihr Blumenkleid flattert, das Lächeln gräbt tiefe Grübchen in seine Wangen.

Eins wird schnell klar: dem Jugendlichen geht mittlerweile alles an seiner Mutter auf die Nerven. Ihre Kleidung, seiner Meinung nach zu schrill für ihr Alter, ihre immer wiederkehrenden Phrasen, mit denen sie sich über die immer gleichen Probleme aufregt und dennoch durch ihr Handeln nie etwas ändert, und schließlich – ihre Art zu Essen. Immer bleibt ein Krümel im Mundwinkel oder ein Rest Streichkäse, den sie – nach Huberts Aufforderung das endlich wegzumachen – mit der Zunge abzulecken versucht.

Er regt sich auf, sie regt sich auf. Mutter und Sohn geifern sich an, bekommen ihre elternkindliche Hassliebe nicht in den Griff, verletzen sich mit Worten.

Man kann den Sohn verstehen und neigt wie Hubert zum Augenverdrehen: Anne Dorval stellt die Mutter mit ihrem inkonsequenten Verhältnis zwischen Argumentation und Handeln bemerkenswert hassbar und nervtötend dar, aber auch verletzlich. Alles ohne zu übertreiben.

Die Spannung zwischen beiden wird ekelhaft. Als er in der Schule den Beruf seiner Mutter angeben muss, sagt er seiner Lehrerin (Suzanne Clément), sie sei tot. Als der Schwindel auffliegt, bietet sich die junge Lehrerin als Gesprächspartnerin an, versucht den zwischen Mutterliebe und -hass oszillierenden Hubert zu verstehen, ihn etwas runterzuholen von seinem Null auf Hundertachzig-Trip.

Huberts Refugium, das ist zum einen eine Tüte voll kleiner Videokassetten, auf denen er in schwarz-weiß und Close up versucht, seine Gefühle zu ordnen. Zum anderen ist das sein Freund Antonin (François Arnaud).

Die Homosexualität des Protagonisten ist einfach. Sie wird nicht breit an die Wand geklatscht, sondern ist da, wie selbstverständlich, wie die Nacht zum Tag wird und umgekehrt. Das ist zur Abwechslung mal richtig angenehm. Dolan setzt keinen Fokus darauf, wie es in so vielen anderen Filmen der Fall ist. Ist das ein Zeichen, dass Homosexualität in unserer Gesellschaft angekommen ist? Zumindest in der Generation eines Xavier Dolan?

Das einzige Mal, als sie thematisiert wird, ist, als Huberts Mutter davon erfährt. Im Mittelpunkt steht aber nicht das klassische Entsetzen über die Offenbarung, sondern die Enttäuschung über den Sohn, da sie es nicht von ihm erfahren hat.

Ihren Eklat findet die Mutter-Sohn-Beziehung, als Chantale Hubert – unter Absprache mit dem sonst so absenten Vater – in ein Internat steckt. Hubert ist fest davon überzeugt: er ist nicht dafür gemacht, eine Mutter zu haben. Oder zumindest nicht diese.

Der Jugendliche haut aus dem Internat ab, nicht ohne ihr zu schreiben, wo er ist, falls Redebedarf besteht.

Wie das Verhältnis der beiden heute aussieht, könnte Dolan wohl selbst beantworten, der Film hat autobiografische Züge.

In diesem Sinne: Maman.

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„J’ai tué ma mère“, Kanada, 2009.

Regie und Drehbuch: Xavier Dolan

Darsteller: Xavier Dolan, Anne Dorval, François Arnaud

U. v. a. ausgezeichnet mit dem Cannes Art Cinema Award, Cannes Prix Regards Jeune.