Ich schwärme schon seit längerem für mobile games. Im Einheitsbrei aus Clash of Clans und Candy Crush Klonen verstecken sich einige unglaublich tolle Spieleperlen. In 80 Days kann ich den Jules Verne Roman in Form einer Interactive Novel nachspielen, Mini Metro lässt mich eigene U-Bahn Netze entwerfen und in Devils Attorney arbeite ich mich in humorvollen Fällen zum Spitzen Anwalt hoch. Mit ein bisschen Suchen und Ausprobieren findet jeder auf dem Handy ein passendes Spiel. Gerade in Zeiten plumper Aussagen wie: “Wer am Handy zockt ist kein GAMER!” ist es wichtig, auch mal über den Tellerrand zu schauen. Und nein, es muss nicht direkt ein Diablo Immortal sein. Warum nicht mal was Cleveres spielen, was mit Anspruch und vielleicht sogar Botschaft?

In der Indie Booth der Gamescom 2018 waren einige Handyspiele vertreten, aber eines stach für mich nicht nur aus der Masse der Indie Booth, sondern der ganzen Messe heraus. Der Stand von My Child Lebensborn wirkte unscheinbar. Klein und mit wenig Tamtam. Eigentlich ganz angenehm nach dem Spektakel der großen Publisher und einigen, auf den ersten Blick beeindruckenden Indie Titeln, die sich beim Anspielen als heiße Luft erweisen. (Ein gewisses Macrotis soll nicht ganz so überzeugend gewesen sein.) Den Stand betreut Elin Festøy, die ausführende Produzentin des Spiels. Eine norwegische Produktion über ein düsteres Kapitel der norwegischen Geschichte. Bevor ich das Spiel starte, gibt sie mir einige einrahmende Informationen mit auf den Weg: Wir befinden uns im Nachkriegsnorwegen. Die deutschen Besatzer sind vertrieben, die Folgen des Krieges bleiben. Zu diesen gehören die Lebensborn Kinder. Der Lebensborn e.V. war im nationalsozialistischen Deutschen Reich für die Förderung einer bestimmten “Art” von Kindern zuständig, deren Aussehen der Ideologie entsprachen. Besonders “arische” Kinder sollten vermehrt aufgezogen und gezeugt werden. Bei vielen ungewollten Schwangerschaften von Frauen in besetzten Ländern wurde durch Angebote wie anonyme Entbindungen und die anschließende Adoption der Kinder, bevorzugt an SS-Angehörige, dafür gesorgt, dass alleine in Norwegen bis Ende des Krieges 12.000 Lebensbornkinder zur Welt kamen. Die Mütter dieser Kinder wurden nach dem Krieg stark diskriminiert, ihnen wurde Verrat vorgeworfen. Die Bestrafungen waren teils schwerwiegender als bei Norwegern, die mit den Besetzern kooperiert hatten, viele der Frauen mussten nach Kriegsende in Internierungslager und wurden dort eine Zeit lang festgehalten. Die Kinder erlebten ebenfalls starke Diskriminierung und Anfeindungen.  Die Geschichte ist bis heute nur unzureichend aufgearbeitet und gerade das war einer der Gründe für Festøy, dieses Thema in einem Spiel zu verarbeiten.

Ich schlucke angesichts der ernsten Thematik und starte die Demo. Das Spiel präsentiert sich unerwartet niedlich. Die handgezeichneten Umgebungen und Figuren sehen wie einem Kinderbuch entsprungen aus. Die Spielerinnen und Spieler wählen am Anfang zwischen zwei Kindern. Klaus oder Karin, beide feiern zu Beginn ihren siebten Geburtstag und freuen sich auf ihren ersten Schultag. Wir adoptieren das gewählte Kind, die Identität des Elternteils den wir spielen bleibt unerwähnt. Aber dieses  ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass Karin als Kleinkind zu uns, als alleinerziehendes Elternteil, kommt. Von da an kümmern wir uns, um Karin. Wir müssen ihr Essen geben, wenn sie hungrig ist, sie baden, wenn sie schmutzig ist und am Ende des Tages vielleicht noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Dabei haben wir nur begrenzt Zeit pro Tag. Karin muss in die Schule, wir müssen arbeiten. Es muss eingekauft werden und hier soll es mal ein neuer Schulranzen oder dort ein Weihnachtsgeschenk sein.

Dabei wird schnell klar, dass die Ressourcen im Nachkriegsnorwegen begrenzt waren. Jeder Tag Arbeit bringt nur wenig Geld, das gerade so für die täglichen Nahrungsmittel reicht. Wenn es dann um einen teuren Schulranzen geht, muss schon mal auf ein paar große Mahlzeiten verzichtet werden, außer wir schieben Überstunden. Aber dann gibt es nach der Arbeit kaum noch Zeit für Karin. Haben wir ihr vorher zugesagt beim Lernen zu helfen, schaut sie uns enttäuscht an und distanziert sich für den Tag von uns. Besonders wichtig sind aber unsere Gespräche mit Karin. Schnell wird klar, dass sie von den anderen Kindern und den Erwachsenen nicht akzeptiert wird.  Es wird offensichtlich, dass unser Kind extrem drangsaliert wird. Karin wird ausgegrenzt, beschimpft und angegriffen. All das erfahren wir nicht direkt. Kommen wir abends nach Hause steht Karin da, ihre Augen verquollen, Kratzer im Gesicht und das Kleid dreckig. Obwohl ich das virtuelle Kind erst fünf Minuten kenne, sorge ich mich sofort, empfinde sogar Wut und will in dem folgenden Dialog wissen, wer das war und warum. Meist stehen drei Optionen zur Verfügung. Eine Optimistische, eine Bestimmende und eine Ehrliche.

Karin erzählt dann zögerlich von den anderen Kindern. Aber auch von Lehrern, von Nachbarn. Die ganze Stadt scheint sich gegen sie zu wenden. Wir erfahren die Ausgrenzungen fast immer nur über unser Kind. Durch Kinderaugen. Karin will wissen, warum die anderen so sind. Warum sie Nazikind genannt wird. Und was das überhaupt heißt. Es liegt an uns, ihr die Antworten zu geben, oder sie fernzuhalten. Von der Vergangenheit, die täglich ihre Realität bestimmt. Ich verspreche Karin, Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen. Ab diesem Zeitpunkt schreibt der Elternteil, den wir spielen, ein Tagebuch, dass für eine ältere Karin bestimmt ist. Hier können wir mehr über die Lebensborn Kinder und über die Situation im Norwegen der Nachkriegszeit erfahren.

Immer wieder erleben wir auch schöne Momente mit Karin. Gemeinsames Angeln oder Schneemann bauen, wir spielen verstecken mit ihr und malen im Kinderzimmer. Aber gerade wenn die Situation hoffnungsvoll erscheint, werden wir von der Realität eingeholt. Zum Beispiel taucht Karin nach der Schule nicht mehr auf. Wir finden sie Abends an einen Baum gebunden im nahen Wäldchen. Weinend entschuldigt sie sich. Sie konnte sich nicht wehren gegen die anderen Kinder. Schuldgefühle machen ihr zu schaffen und es ist schwierig, ihr die Sorgen zu nehmen. Die Lehrer helfen nicht. Eine Beschwerde macht alles nur schlimmer. Predigen wir Selbstschutz oder Mut ihren Verfolgern gegenüber? Raten wir ihr zur ständigen Vorsicht, oder ist es wichtiger die schönen Momente zu fokussieren? Ressourcenmanagement müssen wir nicht nur mit Geld und Essen, sondern auch mit Emotionen betreiben.

Verlieren können wir dabei nicht. Aber Karins kindliches Herz wird mit der Zeit härter, wenn wir nicht aufpassen. Sie wird distanzierter. Aber ist das nicht die einzige Möglichkeit, in so einer Situation nicht unterzugehen? Ständig stelle ich mir solche Fragen. Will ich ihr vielleicht falsche Hoffnungen auf ein Weihnachtsgeschenk machen, oder aber jegliche Freude aus dem Leben streichen, weil das Geld fürs Essen reichen muss? Was ist das beste für mein Kind? Die emotionale Bindung sei so effektiv, weil Karins Emotionen durch ihre Körpersprache, ihre Mimik und ihr ganzes Aussehen zum Ausdruck käme, erklärt mir Festøy. Bis auf Hunger, Hygiene und Müdigkeit sehen wir keine Werte. Ihr Aussehen und ihre Reaktionen sind genug Feedback, um uns betroffen zu machen, uns in die Verantwortung zu stellen.

Ist eine ehrliche Antwort angebracht? Oder ist es wichtiger Karin fernzuhalten? Quelle

Natürlich sei Mobbing ebenfalls eines der starken Motive des Spiels, erklärt Festøy weiter. Die Thematik sei jetzt genauso aktuell wie vor über 60 Jahren. Um eine junge Zielgruppe zu erreichen, habe man sich für ein Release auf Mobilen Endgeräten entschieden. Das Spiel wurde ausführlich mit Kindern getestet und natürlich in enger Zusammenarbeit mit Opfern der Ereignisse um den Lebensborn e.V. entwickelt. Karins Geschichte ist allerdings fiktiv, wobei alle Begebenheiten auf Erlebnissen der Opfer beruhen.

Die Gamescom Demo ist recht schnell vorbei und hinterlässt nachhaltigen Eindruck bei mir. Kaum ein Spiel hat in so kurzer Zeit und mit so reduziertem Gameplay dermaßen viele Emotionen und Gedanken in mir ausgelöst.

Zum Abschluss erfahre ich noch, dass ein Teil jedes Verkaufs an die Children Born Of War Initiative geht, die zur Aufklärung und Unterstützung von Kindern in Kriegsgebieten beiträgt. Ich verabschiede mich und finde später bei meiner Recherche heraus, dass My Child Lebensborn Festøys erste Computerspiel Produktion ist. Es richtet sich gerade an eine junge Zielgruppe, die z.B. für einen Film mit derselben Thematik nicht ins Kino gehen würde. Ob dieses Konzept aufgegangen ist, konnte ich nicht herausfinden, wohl aber, dass das Spiel von Kritikern und Spielern gleichermaßen positiv aufgenommen wurde. Aufgrund der ernsten Thematik und der wenig “spaßigen” Mechaniken wage ich zu bezweifeln, dass das Spiel von einer jungen Zielgruppe angenommen wird. Trotzdem ist der gewählte Ansatz richtig und wichtig. So müssen serious games aussehen. Und welcher Jugendliche würde sich nicht lieber mit einem Spiel als mit einem Schulbuch mit der Thematik auseinandersetzen?

My Child Lebensborn gehört mit Through the darkest of Times und Attentat 1942 zu den ersten Spielen die in Deutschland, trotz verfassungsfeindlicher Symbole von der USK geprüft wurden, alle drei Spiele erhielten auch eine Einstufung. In Anbetracht der Wirkung von My Child Lebensborn ist dieser Fakt allerdings nicht von so entscheidender Bedeutung, wie in manchen Medien, und von manchen Politikern vielleicht behauptet. Spielt man dieses Spiel, wird klar, wieso Spiele als Kulturgut behandelt werden müssen und wieso eine historisch akkurate Abbildung entscheidend sein kann. Das Spiel macht den Diskurs um die Aufarbeitung der Folgen des zweiten Weltkriegs zum zentralen Thema und zur wichtigen Mechanik. Wie erzähle ich meinen Kindern vom zweiten Weltkrieg, von Verbrechen die unaussprechlich scheinen? Wie ernst könnte sich das Spiel noch nehmen wenn dann ein merkwürdiges Abziehbild der Zeit wie in Wolfenstein: The new Order die Kulisse bilden würde?

So würde ich behaupten, dass My Child Lebensborn eines der wichtigsten Spiele der Messe war. Sicher ist, dass es mein persönliches Highlight war.
My Child Lebensborn ist im Playstore und im Appstore für jeweils 2,99€ erhältlich. Auf der Website gibt es weiterführende Informationen zur Entstehung des Spiels, außerdem gibt es auf Youtube einen gut gefüllten Dev Blog der Entwicklerinnen.

Quelle Titelbild