Na toll. Chefredakteurin. Der ungeliebte  Job, um den sich keiner gerissen hat, ist nun mir zugefallen und das auch noch halbwegs freiwillig. Warum macht man sowas, werdet ihr euch jetzt fragen. Freiwillig.  Und noch schlimmer: unentgeltlich. Ich habe mich das auch schon das ein oder andere Mal gefragt. Die Antwort auf diese Frage beschreibt wohl am besten das Zitat, mit welchem ich mich stets auf dem Blog vorgestellt habe:

“Is this real? Or has this been happening inside my head?”
“Of course it is happening inside your head, Harry,
but why on earth should that mean that it is not real?”

(Harry Potter and the Deathly Hallows. Part II.)

Es ist die Liebe zur Fiktion und irgendwie der Glaube daran, dass Imaginäres doch irgendwie immer real ist, alleine schon dadurch, dass es von etwas Realem erzeugt wird. Vor allem das Schreiben über Fiktion verbindet sie mit der Wirklichkeit. Natürlich braucht es eine große Leidenschaft für Fiktionales, um sich nächtelang vor den Laptop zu klemmen und Film-, Literatur-, Computerspielrezessionen und sonstige geistige Ergüsse zu schreiben und – neuerdings – zu überarbeiten, für ein Publikum, das eigentlich im Dunkeln liegt und von dem wir das Ausmaß nicht kennen. Aber – ich hoffe ich spreche hier nicht nur für mich – der Blog bietet vor allem mir selbst die Möglichkeit – beziehungsweise eine gute Ausrede – mich mehr mit Fiktion und ihren Erscheinungsformen zu beschäftigen. Das Dis+Positiv ermöglicht es, tiefer in fiktive Welten einzudringen, sich die Zeit zu nehmen, über Aspekte Klarheit zu gewinnen oder zu diskutieren und sich in gewisser Weise als Teil der Fiktion zu fühlen. Das Dis+Positiv bildet einen Zugang zur Fiktion, nicht nur für den Schreiber, sondern letztendlich – und vor allem – für alle. Es ist  sozusagen ein Medium für die Medien.

Und schon sind wir bei der Frage, woher die Liebe zur Fiktion kommt, die uns fleißig Artikel produzieren lässt? Warum sind fiktive Welten manchmal so viel schöner als die Realität selbst? Warum verspürt man noch zu oft den kindlichen Wunsch, in dieser oder jener Welt zu sein? Warum kann man sich in ihnen stundenlang verlieren und ist gedanklich meist immer einen Schritt in ihnen, selbst wenn man gerade seinen eigenen Alltag durchlebt? Oder, warum ist einfach das Gefühl, sich gemütlich vor den Fernseher zu setzen oder mit dem Buch in der Hand zu entspannen und sich bewusst der Fiktion hinzugeben, ein erfüllendes Gefühl?

Fiktion

als einschneidende Kraft in unserem Inneren

Fiktion, aus dem Lateinischen fictio „Gestaltung“, bezeichnet die Gestaltung einer eigenen Welt durch Medien, welcher Form auch immer. In der Antike findet man die erste bewusste Form von Fiktion in der Unterscheidung literarischer Erzeugnisse in „historia“ (was nachweisbar ist), „argumentum“ (was sein kann) und „fabula“ (was nicht sein kann). The Godfather of Poetik, Aristoteles, spricht in seinem Universalwerk von der Kunst der Nachahmung von dem, was nicht da ist („Mimesis“). Erst in der Neuzeit, vielleicht durch die Entdeckung der neuen Welt oder den Rationalismus, entsteht Fiktion nach dem heutigem Veständnis.

Mit dem Aufkommen der Lichtspielhäuser Anfang des 20. Jahrhunderts beinhaltet die Institution Kino seither die Funktion, Menschen fiktive Wirklichkeiten zu präsentieren. Und nur zu gerne nutzen wir die Möglichkeit, uns zwei Stunden lang dieser anderen Wirklichkeit hinzugeben. Die Frage, ob das Gezeigte wirklich ist oder nicht, stellt sich gar nicht, wir nehmen es als Realität wahr – zumindest bis wir den Kinosaal verlassen.

“Do you think I’ve gone ‚round the bend?”
“I’m afraid so… you’re mad. Bonkers. Off your head… but I’ll tell you a secret…
all of the best people are.”

(Alice in Wonderland)

Auch Filme greifen das Thema Fiktion immer wieder auf.  Zwei konträre Welten, ihre verschwimmenden Grenzen und andere Wirklichkeiten – das sind Themen, die sich heute in den Medien großer Beliebtheit erfreuen. Der Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland hat in der Neuverfilmung 2010 erst wieder einen großen Erfolg errungen und nicht nur Harry Potter spielt mit den Grenzen des Natürlichen. In Christopher Nolans Inception geht das Spiel um die Wirklichkeit sogar so weit, dass der Zuschauer am Ende im Unklaren gelassen wird, ob der Protagonist nun träumt oder sich im echten Leben bewegt. In Filmen wie Alice im Wunderland, Inception oder Prestige wird uns die Frage nach dem Wahren vor Augen geführt. Gibt es wirklich ein Wunderland oder ist es nur der Auswuchs kindlicher Phantasie? Befindet man sich nun im Traum oder in der Wirklichkeit? Ist es trickreiche Illusion oder unumstößiches Naturgesetz?

Doch wollen wir die Antworten überhaupt finden? Wo wäre dann die Illusion? Schließlich ist nichts unmöglich, wenn man davon überzeugt ist, dass es möglich ist. Oder mit anderen Worten:

“Now you’re looking for the secret. But you won’t find it because of course,
you’re not really looking. You don’t really want to work it out. You want to be fooled.”

(The Prestige)

Filme wie Finding Neverland oder Big Fish thematisieren nicht nur fiktiven Welten, sondern sind mit ihrer ergreifenden Handlung Sinnbilder für die Liebe zur Fiktion und zeigen uns, wie wunderbar Vorstellungskraft sein kann. So erleben wir an der Seite von Edward Bloom, wie ein Mensch mehr und mehr zu seinen Geschichten wird und James M. Barrie lehrt uns, wie wichtig es ist, seine Kindheit zu bewahren und stets zu träumen.

„You can visit Neverland any time you like.“
„How?“
„By believing, Peter. Just believe.“

(Finding Neverland)

Durch die immer mehr auf die Emotionen abzielenden Erzeugnisse der Medien ist es kein Wunder, dass die Anziehungskraft der Fiktion ein Ausmaß an Stärke gewinnt, die zu einer Verwirklichung des Fiktiven führt. Ganz banal sei hier von Kinderspielen die Rede: Kinder, die im Pausenhof in Rollen schlüpfen, sei es Harry Potter oder Frodo, und sich in fiktiven Welten verlieren. Grund für die intensive Auslebung ist, dass vor allem kleine Kinder schwerer die nötige rationale Distanz zur fiktionalen Darstellung aufbringen können.

Fehlende Distanz bewies auch ein anderes, älteres und wesentlich mysteriöseres Beispiel: Ludwig II. Der „Märchenkönig“ – nicht umsonst mit diesen Namen betitelt – begann, sich die geliebten fiktionalen Welten in die Realität zu holen. So fanden sich Wagners Werke als lebensgroße Zierden in seinen Schlössern verewigt, Orte aus den Stücken wurde real nachgebildet. Die Schlösser wurden als persönliche Rückzugsorte Ludwigs erbaut, wo er ungestört in seinen Träumen leben konnte.

Sehnsucht

nach einer anderen Realität

Doch zurück zu der eigentlichen Frage, warum fiktive Welten so anziehend sind. Es ist die Sehnsucht nach Dingen, die anders nicht erfahrbar wären. Es ist das Erfahren von…

1. … dem, was man in der Realität nicht erfahren kann.

Das Phantastische und das Vergangene seien hier aufgeführt. Fantasy wie Herr der Ringe und Science Fiction wie Star Wars erfinden Welten, die nicht existieren. Mittelalterepen wie Game of Thrones oder Gesellschaftsromane aus dem 19. Jahrhundert wie die Jane Austens zeigen eine Zeit auf, die schon längst vergangen und heute nur noch schwer erfahrbar ist.

2. … dem, was man in der Realität eigentlich nie erfahren möchte.

Mord, Entführungen, Tod, Gewalt… spektakulär, wenn man es bloß auf der Leinwand erlebt oder in Büchern, schwarz auf weiß. Doch wer möchte dies schon am eigenen Leib erfahren?

3. … Situationen, die man gerne erleben würde bzw. einem Leben, das man gerne leben würde.

Ich denke, hier erfüllen vor allem oft Serien den Zweck. Reality-Series wie Sex and the City, HIMYM, Gilmore Girls und wie sie alle heißen, bieten einen umfassenden Einblick in andere Leben und lebensechte Situationen. Wie gerne würde man einmal selber einen Abend mit Barney und Co. verbringen oder als Rory auf eine Elite-Uni gehen und als Journalistin durchstarten.

Katharsis

Die Essenz des Ganzen

Kurz und gut: Der Mensch braucht Fiktion, das Herausdenken aus seiner Welt. Diese Welt ist doch zu oft von Banalitäten gekennzeichnet: Schule, Studium, Ausbildung, Arbeitsplatzwechsel, sture Bürotätigkeit, die immergleichen Lieblingsmahlzeiten, diesselben Gesichter um einen herum…

In dieser Trostlosigkeit gibt einem die Fiktion die Möglichkeit, das zu erleben, was man in der Realität – aus welchen Gründen auch immer – nicht erleben kann, aber doch gerne erleben möchte. Diese Flucht in die Fiktion kann ebenfalls etwas Banales sein. Man denke nur an das Hineinphantasieren in die Figuren von McDreamy oder McSexy, zwei erfolgreiche Chirurgen, wie sie uns in Grey’s Anatomy begegnen, wie sie uns aber auch im realen Krankenhaus begegnen könnten. Sie lassen uns den heimlichen Chirurgen in uns selbst ausleben. Die Flucht in die Fiktion kann aber auch in tiefenpsychologische Abgründe führen und so zum Beispiel ein gewisses Bedürfnis nach Gewalt stillen. Das Stichwort „Katharsis“, die seelische Reinigung, um wieder auf Aristoteles zurückzukommen, beschreibt hier treffend das innere Verlangen des Menschen.

Eine Welt ohne Fiktion wäre meines Erachtens eine viel grausamere und unausgeglichenere Welt und die Gesellschaft, in der wir uns heute befinden, wäre wahrscheinlich nicht diesselbe.

Gesund ist die Flucht in die Fiktion dann, wenn man den Ausweg nicht aus den Augen verliert. Wir sind eben nur für einen kurzen Moment Peter Pan, Severus Snape, Arya Stark oder der Verrückte Hutmacher (Auswahl beliebig!). Das Dis+Positiv bietet eine breite Palette an Zugängen in die fiktiven Welten, neben dem Film und der Literatur natürlich auch Games und das Theater. Aber bei uns findet man auch wieder aus ihnen hinaus, wenn der letzte Artikel redigiert und der Computer ausgeschalten ist.

In diesem Sinne:

„Trinkt aus, Piraten, joho!“