Es war Samstagabend auf der Berlinale und ich hatte noch ein wenig Zeit, bevor ich in den Film Ieji Homeland gehen wollte, da erfuhr ich, dass die Jury bereits die Gewinner bekannt gegeben hatte. Ich musste natürlich selbst sofort nachschauen und mir ein Bild davon machen. Schnell setzte nicht nur bei mir Ernüchterung ein: Die hochkarätig besetze Jury (darunter auch Christoph Waltz) hatten den Goldenen Bären 2014 nicht an den Favoriten Boyhood von Richard Linklater gegeben, sondern an den chinesischen Genrefilm Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice) von Diao Yinan.

Was war bis dahin geschehen? Als Berlinale-Erstgänger hatte ich mir die Zusammenfassungen sämtlicher Filme durchgelesen und meine Liste erstellt. Da noch an einigen Stellen Platz war, füllte ich diese Leerstellen mit Wettbewerbsbeiträgen auf, die mich eigentlich nicht so sehr interessierten, darunter auch Bai Ri Yan Huo, ein chinesischer Neo-Noir Film. Von Genrefilmen im Wettbewerb hielt ich nicht so viel, seitdem mich La voie de l’ennemi so sehr enttäuschte. Aber da ich eh nichts Besseres zu tun hatte, ging ich in Bai Ri Yan Huo und sah ihn bis zum Schluss. Mein Bild von Genrefilmen im Wettbewerb änderte sich schlagartig. Der Film war handwerklich gut gemacht, erzeugte Spannung und hielt diese bis zum – wenn auch etwas verwirrenden – Ende durch. Ich war zufrieden. Dennoch war er nicht mein Favorit für den Goldenen Bären. Bis dahin war es noch Dominik Grafs Die Geliebten Schwestern.

Auf Boyhood war ich schon seit meinem zweiten Tag gespannt und ich setzte alles daran, den Film sehen zu dürfen, egal wann und wo. Ich bekam meine Karte und fuhr zum Haus der Berliner Festspiele. Schon ab der ersten Minute hatte mich Boyhood in seinen Bann gezogen und ich war der Meinung sämtlicher Kritiker: Der Wettbewerb hat soeben geendet, denn Boyhood von Richard Linklater muss gewinnen.

Was macht jetzt diesen Boyhood so besonders? Ist es nur das Experiment, einen Film (wohlgemerkt einen Spielfilm mit fiktiver Handlung) über einen Zeitraum von 12 Jahren zu drehen? Oder steckt mehr dahinter? Als erstes musste ich unweigerlich an Lars von Triers Dimension denken. Einen Film, den er über einen Zeitraum von 30 Jahren drehen wollte; immer mit derselben Besetzung und jedes Jahr nicht mehr als drei Minuten. Von Trier musste allerdings aufgeben, da er selbst sein Interesse daran verlor und auch, weil ihm seine Hauptdarsteller wegstarben. (Mittlerweile gibt es die Teile von Dimension zusammengeschnitten auf DVD.)

Das ist ein Aspekt, warum Boyhood so interessant ist. Hier hat man einen Film, dessen Entstehungs- und Drehprozess so ungewöhnlich ist, dass er eine Auszeichnung verdient. Dazu kommt bei Boyhood noch der starke Inhalt. Noch nie zuvor habe ich einen Film gesehen, in dem sich die Figuren so verhalten wie eine ganz normale amerikanische Familie. Nichts wirkt in irgendeiner Art gekünstelt, erfunden oder gespielt. Das liegt auch daran, dass sich Linklater auf die kleinen Dinge konzentriert. Ähnlich wie in seinen Before-Filmen konzentriert er sich in Boyhood stark auf das Zwischenmenschliche: Dialoge über triviale Dinge bestimmen ganze Szenen. Eine Handlung im klassischen Sinne existiert nicht. Dafür schaut man dem Protagonisten Mason (hervorragend gespielt von Ellar Coltrane) beim Erwachsenwerden zu. Und dies geschieht mit einer unglaublichen Intensität: Mason das Scheidungskind, Mason das Mobbingopfer seiner Mitschüler, Mason mit einer anstrengenden Schwester, Mason im Streit mit seinem bösen Stiefvater, Masons erste Liebe, Party, Joint et cetera. Alles wirkt unglaublich natürlich, sodass man sich als Zuschauer unweigerlich die Frage stellt, ob das überhaupt noch ein Spielfilm sein kann. Und ja, es ist einer, darauf legt Richard Linklater viel Wert.

Stellt man Bai Ri Yan Huo und Boyhood gegenüber, so sieht man das Dilemma der Jury der Berlinale. Es sind beides außergewöhnliche und starke Filme, jeder auf seine Art. Bai Ri Yan Huo als ein sehr starker Genrefilm, vielleicht sogar der stärkste der Berlinale. Daneben dieser an sich sehr kleine, ruhige Film Boyhood, der ein Feuerwerk an Emotionen freisetzt. Es war bestimmt keine leichte Entscheidung der Jury, aber eine Entscheidung mussten sie treffen. Dass Wes Andersons The Grand Budapest Hotel mit dem großen Preis der Jury bedacht wurde, stört keinen. Nur welchen anderen Preis gibt man Boyhood und Bai Ri Yan Huo? Denn ausgezeichnet gehörten beide Filme.

Nun hat sich die Jury aus Gründen, die keiner kennt, für Bai Ri Yan Huo entschieden. Der Goldene Bär 2014 geht also nach China. Was passiert aber mit Boyhood? Und das ist jetzt das viel größere Dilemma. Denn welcher Preis passt zu diesem Film? Das Drehbuch war jetzt nicht so berauschend und der Drehbuchpreis ging wohlverdient an Kreuzweg von Dietrich Brüggemann nach Deutschland. Bester Hauptdarsteller ist ebenfalls unpassend. Denn wenn Mason noch jung ist, dann spielt er keine Rolle im klassischen Sinne. Er spricht lediglich die Texte und verhält sich ganz natürlich dabei und lässt sich filmen. Das ist kein Spielen. Erst der ältere Mason lässt Züge von einem Schauspieler erkennen, jedoch relativ spät. Daher kann man ihn nicht als besten Hauptdarsteller auszeichnen.

Schlussendlich hat Boyhood den Silbernen Bären für die beste Regie bekommen. Ein klarer Trostpreis. Linklater freut sich zwar und bekommt nun seinen zweiten Bären für die Regie (den ersten 1995 für Before Sunrise), doch jeder weiß, dass Boyhood den Preis nur bekommt, weil er in irgendeiner Form ausgezeichnet werden muss. Der Goldene Bär wäre aber angemessener gewesen.

So setzt schnell Ernüchterung ein. Die Jury-Entscheidung ist gefällt und daran kann man nichts mehr ändern. Linklater zeigt sich nicht als schlechter Verlierer, auch wenn er es hätte sein können. Selten erlebt man eine Jury-Entscheidung, die bei Publikum und Kritik so viel Unmut hervorruft. Und doch: Gratulation an Bai Ri Yan Huo. Verdient gewonnen, auch wenn die Konkurrenz mit Boyhood es ebenfalls sehr verdient hätte. Jetzt müssen wir noch ein bisschen warten, bis die Filme in Deutschland erscheinen, denn sehenswert sind sie beide und sie sind es auch wert, mehrmals gesehen zu werden.