geschrieben von Sophia Schmid und Lena Fischer.

„Ich habe ja gesagt, dass ich von der großen Entdeckung sprechen will, […] dass alle Quellen unseres geistigen Lebens vergiftet sind und dass unsere gesamte bürgerliche Gesellschaft auf dem verpesteten Boden der Lüge aufgebaut ist.“

Am 25.11.2010 feierte das Stück „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen in der Regie von Bettina Bruinier am Münchner Volkstheater Premiere. In ihrer auf einer modernisierten Textfassung basierenden Inszenierung zeigt sie, wie moderne Demokratie funktioniert – oder besser: nicht funktioniert. Bruiner beschreibt das Spannungsfeld, in dem sich das moderne Individuum befindet: eigene Interessensdurchsetzung, Manipulation, Anpassungszwang und Unterordnung innerhalb einer demokratischen Gesellschaft.

Mit „Ein Volksfeind“ schrieb Henrik Ibsen 1882 das wohl erste „Öko-Drama“ der Theatergeschichte. Der Kurarzt Tomas Stockmann deckt in seiner Heimatstadt die Verunreinigung des Wassers auf, das die Einnahmequelle des kleinen Kur- und Badeorts darstellt. Um eine umfassende Sanierung des Kurbads einzuleiten, plant er einen aufklärenden Artikel in der lokalen Zeitung zu veröffentlichen. Zunächst scheinen deren Redakteur Hovstad und die Vertreterin der gewerbstätigen Mittelschicht, Frau Aslaksen, hinter ihm zu stehen. Als aber Peter Stockmann, Bürgermeister und Bruder des Kurarztes, bekannt gibt, wie viel der Umbau die Bürger kosten würde, steht Tomas Stockmann plötzlich mit seinen Plänen alleine da. Die Verunreinigung soll vertuscht werden. In seinem Kampf um die Sanierung ruft er eine Bürgerversammlung ein, von der er allerdings am Ende zum Volksfeind erklärt wird. Damit steht nicht nur Stockmanns eigene Existenz, sondern auch die seiner Familie und Vertrauten auf dem Spiel.

Ibsens Figuren sind hierbei auf bloße Typen reduzierte, karikaturistische Repräsentanten ihrer jeweiligen Gesellschaftssparte. So ist Frau Aslaksen (Xenia Tiling) in ihrem grauen Businesskostüm eine einzige Persiflage überfreundlicher Interessensvertreter, während der Redakteur Hovstad (Jean-Luc Bubert) mit seinem ungepflegten Äußeren den Prototypen des opportunistischen Oberflächenjournalismus abgibt. Die exemplarische Darstellungsweise wird auch durch das schlichte Bühnenbild, das aus beweglichen weißen Stellwänden besteht, verdeutlicht. Von der strikten Typenzuweisung hebt sich lediglich die Hauptfigur Tomas Stockmann ab (grandios gespielt von Friedrich Mücke). Wirkt Stockmann zu Beginn des Stücks in seinem selbstgefälligen und verschwenderischen Auftreten gänzlich unsympathisch, erregt er spätestens während der Bürgerversammlung das Mitleid des Publikums.Fassungslos, idealistisch und verzweifelnd, aber niemals von seiner Überzeugung abbrechend gibt er die Rolle des Einzelkämpfers. Mücke schreit, lacht, wirft sich auf den Boden. Dabei lässt er seinen Stockmann allerdings niemals lächerlich wirken, nur an der Grenze des Wahnsinnigen wandern.

Die Bürgerversammlung stellt nicht nur den Handlungshöhepunkt, sondern auch den der darstellerischen Leitungen dar. Hier ist besonders der Bruder und Widersacher des Protagonisten, Peter Stockmann, zu nennen. Robin Sondermann verkörpert mitreißend und gekonnt die Figur zwischen familiärer Betroffenheit und politischer Präsenz.
Die Diskussion zwischen den Brüdern weitet sich zunächst auf die anderen Figuren und schließlich auch auf das ganze Publikum aus. Mit der Saalbeleuchtung werden die passiven Zuschauer auf einmal zu Teilnehmern der Bürgerversammlung und damit Teil der Inszenierung. Diese – ganz im Sinne des postdramatischen Theaters stattfindende – Öffnung der sonst bestehenden Grenze zwischen Beobachtenden und Beobachtetem verunsicherte das Publikum dermaßen, dass zunächst nur verhaltenes Lachen und vereinzelte Ausrufe zu hören waren und schließlich nur ein Drittel dem Kurarzt das Vertrauen aussprach.

In dieser Grenzauflösung findet das Bühnengeschehen seine Entsprechung: Die private Wohnung der Stockmanns wandelt sich durch Verschiebung der weißen Stellwände zum öffentlichen Raum. Gleichzeitig dienen die Stellwände als Projektionsflächen für aufwändig gestalteten Foto- und Videoaufnahmen, sowie für live-Recherchen des Zeitungspraktikanten Billing im Internet. Letztere bringen die Handlung allerdings keineswegs weiter, sondern verkommen schnell zu überflüssigem Klamauk, wie zum Beispiel Billings Suche nach dem Begriff „Schamhaarentfernung“ bei Wikipedia. Die reizüberflutende Parallelität dieser einzelnen Elemente erschwert es, dem Geschehen in seiner Gesamtheit zu folgen. Das ansonsten klare Inszenierungskonzept wird nur durch ein unverständliches Element getrübt. Die Tochter von Tomas Stockmann (Kristina Pauls) tritt in einer Szene mit Pistole und in einem hautengen grünen Ganzkörperanzug auf die Bühne, den sie kurz darauf allerdings kommentarlos wieder auszieht… ???

Alles in allem zeichnet sich die Inszenierung besonders durch ihren persönlichen Bezug zum Zuschauer aus. Er wird direkt angesprochen, in seiner Passivität ertappt und dadurch zur Reflexion über sein Selbstverständnis als Individuum und Mitglied einer demokratischen Gesellschaft angeregt. Obwohl die Aufführung gerade mal hundert Minuten dauert, werden die angeschnittenen Themen und aufgeworfenen Fragen dem Zuschauer noch lange im Gedächtnis bleiben.

Termine und Karten gibt es unter www.muenchner-volkstheater.de.

Bilder © Arno Declair