Lediglich sieben Langfilme konnte der russische Regisseur Andrej Tarkovskij in seiner Karriere realisieren. Fünf dieser Filme drehte er dabei in der Sowjetunion, was für ihn stets einen zermürbenden Kampf gegen die repressive Zensurpoliktik des damaligen Regimes bedeutete. Diese Arbeitsbedingungen führten schließlich 1983 zu seiner Entscheidung, seine Heimat zu verlassen. In Italien und Schweden konnte er daraufhin zwei weitere Filme realisieren, bis er 1986 einem Krebsleiden erlag. Die Filme, die in dieser Geschichte oft leidvoller künstlerischer Hingabe entstanden, sind individuelle, zutiefst kontemplative und formalästhetisch schlichtweg überwältigende Werke, die von vielen Cineasten und Filmkritikern zwar seit Jahrzehnten verehrt werden, im Bewusstsein der breiten Masse allerdings auch in den 25 Jahren, die seit Tarkovskijs frühem Tod vergangen sind, wenig Aufmerksamkeit gewinnen konnten.

Doch der Wunsch, diese Filme einem breiteren Publikum bekannt zu machen, ist nicht der einzige Grund, warum es auch heutzutage noch lohnt, darüber zu schreiben; auch scheinen seine enigmatischen Werke einen so vielschichtigen Interpretationsraum zu bieten, dass jedes subjektive Erleben eine neue Facette zu dem bereits existierenden Fundus an Kritiken zu seinen Filmen beitragen zu können scheint.

In der folgenden Kritik möchte ich mich daher Andrej Tarkovskijs 1972 in der Sowjetunion entstandenen Film „Solaris“ widmen, der sich innerhalb des Gewands eines Science-Fiction-Films ein philosophisches Kammerspiel entfaltet, in welchem der Zuschauer zusammen mit den Protagonisten seine Weltanschauung durch provokante Fragen testen lassen darf.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem und erzählt die Geschichte des Psychologen Kris Kelvin (Donatas Banionis), der zu einer Raumstation auf dem Planeten Solaris reisen soll. Die Wissenschaftler, die sich auf dieser Station zum Zweck der Erforschung dieser fremden Welt aufhalten, scheinen von mysteriösen Vorfällen betroffen zu sein; einer der ehemaligen Forscher berichtet Kris davon, dass er bei einem Erkundungsflug auf der Oberfläche des Ozeans des Planeten die Entstehung menschlicher Figuren beobachten konnte und auch der kürzliche Selbstmord eines der Besatzungsmitglieder, dem Kris ebenfalls bekannten Wissenschaftler Gibarian (Sos Sarkissjan), gibt Anlass zur Sorge. Kris soll die Zweifel aufklären und das Projekt aus der Krise holen. Auf der Station angekommen wird er – nicht gerade freundlich – von den zwei verbliebenen Wissenschaftlern Snaut (Jüri Järvet) und Sartorius (Anatoli Solonizyn) empfangen. Er erfährt, unter Anderem durch eine für ihn bestimmte Videoaufzeichnung, die Gibarian kurz vor seinem Selbstmord aufnahm, dass der Ozean des Planeten nicht nur eine eigenständige Intelligenz zu besitzen scheint, sondern auch die Gedanken der sich auf den Planeten befindenden Menschen infiltriert. Dabei beschafft sich diese Intelligenz Informationen über diejenigen Mitmenschen, die im Leben der jeweiligen Person einen besonderen Stellenwert besitzen oder besaßen – um anschließend Kopien eben dieser Menschen zu formen und diese mit dem Besucher des Planeten zu konfrontieren. Für Kris besteht diese Erscheinung aus seiner ehemaligen Freundin Hari (Natalja Bondartschuk), die bald nach seiner Ankunft auf der Forschungsstation auftaucht. In der Realität hat Hari durch Kris‘ Mitschuld Selbstmord verübt und ihre neuerliche Manifestation wird daher zum Ausdruck seiner Ängste und Schuldgefühle. Schnell zeichnet sich ab, dass der Psychologe wohl kaum dazu beitragen wird, die Probleme auf der Station zu lösen – vielmehr steht er nun vor der Herausforderung, sich intensiv mit seinen eigenen, verdrängten Konflikten auseinanderzusetzen.

Obwohl Kris dabei von Anfang an um den rein ideellen Ursprung dieser Frau weiß, muss er doch ihre materielle Realität anerkennen, auch wenn, wie ihm die Wissenschaftler erklären, diese Projektionen nicht wie Menschen aus Atomen, sondern aus Neutrinos bestehen, und sie daher keine tatsächlichen Reproduktionen der jeweiligen Personen darstellen können. Dennoch scheint diese zunächst irreal wirkende Reinkarnation seiner einstigen Geliebten mehr zu sein als nur ein physikalisches Phänomen, was auch dadurch evident wird, dass Hari, je mehr Kris sie als reales Individuum akzeptiert, ein eigenständiges Bewusstsein zu entwickeln scheint, in dem sie sich selbst paradoxerweise einerseits darüber klar wird, dass sie nicht die reale Hari sein kann, jedoch andererseits Erinnerungen an ihr gemeinsames Zusammenleben mit Kris auf der Erde in sich findet.

In diesem Zusammenhang sieht sich der Zuschauer mit einer Frage konfrontiert, die an Max Frischs Bildnisproblematik erinnnert: Wenn wir einen anderen Menschen lieben, lieben wir dann wirklich diesen Menschen – also das lebendige, sich stets verändernde und schwer fassbare Wesen – oder lieben wir das Konzept, das wir uns von ihm geschaffen haben und in das wir ihn immer wieder zu drängen versuchen? Und falls letzteres zutreffen sollte: Wie einmalig beziehungsweise austauschbar ist dann das reale Zielobjekt unserer Projektionen für uns?

Allerdings beschränkt sich der philosophische Diskurs des Films nicht alleine auf den Zusammenhang zwischen Sein und Schein, sondern thematisiert auch die Frage, ob wissenschaftliches Streben rein um des wissenschaftlichen Fortschritts willen den Menschen nicht eher schadet als nützt. Während Snaut und Sartorius die „Gäste“ – so nennen sie die Erscheinungen, die ihnen der Planet als Spiegelbilder ihres eigenen Unterbewusstseins schickt – lediglich als Störfaktoren betrachten, gibt sich Kris der Projektion seiner ehemaligen Freundin in Liebe hin, wodurch er allerdings auch den Schmerz ihrer Trennung erneut durchleben muss. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, die also Erkenntnis und Fortschritt durch die Erforschung der externen Welt zu gewinnen versuchen, versucht Kris, die Gelegenheit zu nutzen, um persönliche Weiterentwicklung zu erreichen, einen Weg zu finden, seine Schuldgefühle zu verarbeiten und innerlich weitergehen zu können.

„Der Mensch braucht den Menschen“, konstatiert Snaut, der zunehmend in Zweifel über den Sinn ihres Auftrags gerät, während Sartorius entgegnet, dass das Streben nach Erkenntnis das Zentrale im Leben eines Menschen sei. Doch warum fremde Planeten erforschen, warum nach umfassendem naturwissenschaftlichem Wissen suchen, wenn wir doch noch nicht einmal uns selbst, unsere Mitmenschen und die Gefühle dazwischen verstehen? Und warum sollte sich der Mensch auf seine Ratio beschränken, wenn er doch so offensichtlich das Irrationale zu benötigen scheint? Dieser kulturkritische Ansatz wird dadurch verstärkt, dass die umfangreiche Sammlung menschlichen Wissens und menschlicher Kunst, die in der Bibliothek der Raumstation gehortet ist, den Forschern im Angesicht des Unbekannten keine Hilfe zu bieten scheint, ja, schon fast als Ballast wirkt.

Tarkovskij gibt dabei in seinem ihm typischen, durch lange Einstellungen und langsames Erzähltempo geprägten Stil dem Zuschauer während des Films genügend Gelegenheit, über die genannten Problematiken zu reflektieren. Trotz des komplexen Sujets wirkt der Film dank dieser formalen Umsetzung nie überbordend, da nicht einfach nur Gedanken und Gefühle aneinandergereiht, sondern auch der Raum und die Zeit dazwischen greifbar gemacht werden. Dem Regisseur gelingt dabei also ein Drahtseilakt, der riskanter kaum sein könnte: Ein intellektuell fordernder und sehr vielschichtiger Film, dessen Ideen in einer Bildsprache umgesetzt werden, die zwar in sich ebenfalls äußerst streng durchdacht ist, allerdings gleichzeitig eine schwerelose Stimmung vermittelt, wodurch der Film tatsächlich auf gewisse Weise entspannend wirkt, ohne aber seine Tiefe zu verlieren. Ein faszinierendes Zusammenspiel also, bei dem man wohl getrost von einem Werk wirklich großer Kunst sprechen kann.

Wie man es wohl bereits in der bisherigen Besprechung des Films bemerkt hat, ist es Tarkovskij primär weniger daran gelegen, konkrete Aussagen freizulegen, als den Zuschauer selbst zu eigenständiger, kritscher Auseinandersetzung zu den aufgeworfenen Fragen anzuregen. Eine zentrale Intention zieht sich allerdings eindeutig und stringent durch den Film: Nämlich die vehemente Absage an blindes technisches und wissenschaftliches Vorwärtsstreben auf Kosten der Menschlichkeit. Doch auch dem emotionsfixierten, inneren Weg, den der Progtagonist beschreitet, scheint kein glückliches Ende beschieden zu sein. Womit wir bei einer weiteren der zentralen Fragen des Films angelangt wären: Ist nicht alles, wonach sich der Mensch sehnt, Glück im Leben zu finden, und sollte nicht alles menschliche Streben vornehmlich darauf abzielen, dieses Glück den Menschen näher zu bringen? Doch wo sich dieses Glück finden lässt, kann oder will auch Tarkovskij nicht beantworten. Im Film kann es jedenfalls kann es keine der drei im Fokus stehenden Figuren erreichen.