Ich mochte „The Corrections“, weil es mir Angst gemacht hat. Weil ich in mir selbst das Potential entdeckt habe zu einem seiner Charaktere zu werden. Weil es unausweichlich scheint, dass es so kommt. Weil es eben um Charaktere geht, die so sind, wie Menschen zu sein scheinen. Wie zwangsläufig alle Menschen, irgendwie. Menschen, die man genauso hassen wie lieben muss. Die trotz ihrer kleinen Erfolge am Ende doch auf großartige Weise scheitern.

Auf den knapp 600 Seiten voller freudiger und unterhaltsamer Angst werden viele Korrekturen gemacht. Oder zumindest das große Bemühen geschildert welche zu machen. Auf globaler und individueller Ebene. Aber Korrekturen führen eben nicht zwangsläufig zum Richtigen. Der Roman begleitet zwei Generationen der Familie Lambert durch die persönlichen und gesellschaftlichen Wirren des Wirtschaftsbooms in den Neunzigern und deren Vergangenheit, bei dem verwirrten Scheitern sich selbst und die anderen besser, im Grunde einfach erträglicher zu machen.

Das sind die disfunktionalen Lamberts im Schnelldurchlauf:

ο Vater Alfred, pensionierter Eisenbahningenieur, vom Leben zur Gefühlslosigkeit erzogen, an Parkinson erkrankt

ο Mutter Enid, lebenslange Hausfrau und unbeholfene Mutter,deren Leben hauptsächlich aus Enttäuschungen und unerfüllten Träumen besteht, die aber dennoch vehement an einem Zustand des Glücks arbeitet, wünscht sich ein letztes großes Weihnachtsfest mit der gesamten Familie

ο Sohn Gary, erfolgreicher Banker, großes Haus, Ehefrau (die ihre Schwiegereltern hasst), drei Kinder, depressiv mit Hang zum Alkoholismus, glaubt seine Position in der Familie durch seine Frau unterlaufen

ο Sohn Chip, links-orientierter Akademiker, wegen Affäre mit Studentin von der Universität suspendiert, arbeitet verzweifelt an einem Erfolg als Drehbuchautor, gerät an dubiosen Berater-Job für die Litauische Regierung

ο Tochter Denise, erfolgreiche Köchin, die unabhängig Affären mit ihrem Unternehmer-Chef und dessen Frau eingeht

Was sich jetzt hier oberflächlich vielleicht wie eine Ansammlung von Charakter-Klischees liest, wirkt in Franzens detailverliebten und pointierten Beobachtungen weitaus tiefgreifender und das mag abgedroschen klingen, aber auf mich eben auch erschütternd real. Franzen hat in seiner Sprache eine bemerkenswerte Mischung aus Komplexität und Einfachheit entwickelt, die lautes Lachen über aberwitzige Ereignisse genauso zulässt wie den bitteren und ätzenden Schmerz der Entlarvung. Kapitelweise springt er in Zeit und zwischen den Charakteren, verwebt die klassische Romanform immer wieder mit anderen Texttypen (z.B. Emails) und erschafft so einen abwechslungsreichen und umfassenden literarischen Werkkomplex. Anstrengende und fordernde Passagen verweben sich so dramaturgisch effektiv mit amüsanten und lockeren Abschnitten.

Ich habe keine große Ahnung von Finanzwirtschaft und solchen Dingen. Und auch wenn der realwirtschaftliche Kontext eine wichtige Rolle zu spielen scheint, funktioniert die Geschichte ebenfalls wunderbar, wenn die Anspielungen unverständlich und abstrakt bleiben. Dass der Mensch als kleinstmögliche Einheit eines wie auch immer gearteten Systems mit eben diesem in einer zerstörerischen Symbiose steht, wird nämlich auch so klar. Egal ob es ein scheinbar übermächtiges System wie die Wirtschaft oder schlicht die Familie ist. Im Endeffekt versteht man in keinem der Fälle die Wirkungsprinzipien. Man versteht nur, dass man irgendwie daran kaputt geht. Zumindest wenn man sich ihnen zu reaktionslos aussetzt. Da helfen dann auch keine Korrekturen mehr.

„The Corrections“ hat Geist, Herz, einen überwältigenden Humor und ist dennoch ätzend und zynisch. Franzen selbst hat gesagt: „You have to love, before you can be relentless.“ Das Buch ist tatsächlich erbarmungslos, aber es ist auch voll Liebe.

Der gefeierte Roman wird übrigens gerade als HBO-Serie entwickelt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Geschichte, die so sehr von der Stimme und Sprache seines Autors lebt, ohne sie funktionieren kann. Was das Serienformat aber bereits bewiesen hat ist, dass es auch mit solchen komplexen narrativen Strukturen, wie denen des Romans, umzugehen weiß.