Juli 2010. Ein Mann wird aus dem Hausarrest entlassen, in dem er sich seit zwei Jahren befand. Sein Verbrechen: Er hat eine 13-Jährige vergewaltigt und sich der Haft in den USA entzogen. Bis 2008. Danach wurde er von den Schweizer Behörden unter Hausarrest gestellt. Bis 2010 wurde dann überlegt, ob sie ihn an das Land, das seit 33 Jahren beharrlich Anklage erhebt, ausliefern sollen. Warum das lange Überlegen?

Nun ja. Der Mann heißt Roman Polanski und sollte am Tag seiner Festnahme für sein Lebenswerk geehrt werden. Ein bisschen fies diesen Moment abzupassen. Zumindest etwas unklug, da ausgesprochen öffentlich. Mit dem Protest, der folgte, hätte man rechnen müssen. Dass man es entweder nicht tat oder in Kauf nahm, zeigt, wie sicher man sich seiner Sache war. Eine Sicherheit, die, bei aller „Kulturblindheit“, ein wenig beneidenswert ist.

Es ist eine Situation, die aus meiner Sicht heraus schwer beurteilbar ist. Vergleichbar fast ein wenig mit der Obama-Nobelpreis-Geschichte: Irgendwie gerechtfertigt, irgendwie aber auch auf unbestimmte Weise falsch. Oder doch nicht? Oder doch? Immerhin, könnte man anführen, hat das Mädchen ihm öffentlich verziehen. Immerhin, könnte man argumentieren, wurde seiner Frau der schwangere Bauch aufgeschlitzt, angeblich auch noch motiviert von seinem bis dato größten Hit „Rosemary’s Baby“. Von seiner Kindheit im polnischen Ghetto, von der Mutter in Auschwitz, dem Vater im KZ und ihm selbst im permanenten Versteck fängt man am besten gar nicht erst an. Denn wenn eine schlimme Vergangenheit schlimme Taten rechtfertigen würde, dann wäre wohl ein Großteil aller Vergewaltiger und Gewaltverbrecher zu begnadigen.

Ist Polanski das? Ein Vergewaltiger und Gewaltverbrecher? Ein Pädophiler?

Eine gewisse Tendenz zu jüngeren Frauen beweist nicht zuletzt auch seine tragisch ermordete Ehefrau. Eine Tendenz, die misstrauisch begutachtet wurde. Ein Misstrauen das sich bestätigt sah, als es 1977 zum Eklat kam. Auf einer Party. In Jack Nicholsons Haus. Skurril genug möchte man meinen. Was hat denn eine 13-Jährige, Party hip oder hop, mitten in der Nacht bei Jack Nicholson zu suchen? Etwa so viel wie Hänsel und Gretel im Hexenhaus, würde ich sagen.

Das entschuldigt keinesfalls die Tat. Es gehört nur zu einer Verkettung der seltsamen Elemente, die einen Meister des seltsamen Films zu einer zwiegespaltenen Persönlichkeit werden lassen. Roman der Vergewaltiger und Polanski der Filmgott.

Bereits sein erstes öffentlich bemerktes Werk, seine Abschlussarbeit für die Filmhochschule in Lodz „Zwei Männer und ein Schrank“, brachte ihm internationales Lob. Polanski, was auch immer man sonst von ihm halten mag, ist ein Meister der Spannung. Nicht nur in wahren Schockern, wie eben sein Standardreferenzwerk „Rosemary’s Baby“ oder „Der Mieter“. Auch in Parodien wie „Tanz der Vampire“ (sein zweiter Evergreen) oder solchen Werken wie „Der Pianist“ versteht er es, allein durch den Einsatz von Musik das Adrenalin steigen zu lassen. Dass er dabei nicht nur deshalb oft selbst in seinen Filmen auftaucht, weil er womöglich einen ähnlichen Aberglauben wie Hitchcock pflegt, sondern weil er wirklich etwas kann, beweist unter anderem seine Rolle als „Alfred“ in „Tanz der Vampire“. Er spielt den Gehilfen des Professors und verleiht ihm Naivität, konstante Panik und zugleich Steifheit, macht ihn zu einer Figur, die sich herrlich in das gesamte skurrile Gefüge dieses sehr skurrilen Filmes einfügt.

„Der Pianist“ spricht eine andere Sprache, doch er spricht sie nicht weniger intensiv.

Der Film könnte auch heißen „Was mit den Juden geschah, die nicht auf Schindlers Liste standen“. Zumindest steht er eindeutig unter dem Motto. Kompromisslos und schonungslos zeigt er dorthin, wo es bei Spielberg Entspannung oder Abblenden gab, wie es wahrscheinlich nur jemand kann, der selbst dabei war, wie eben der in Paris geborene Sohn jüdischer Eltern, die 1936 mit dem Dreijährigen nach Krakau zogen. Sozusagen aus der Wüste in die Hölle, könnte man ganz dramatisch behaupten. Doch zurück zum Pianisten:

Eindrucksvoller als das Leid der Juden im Ghetto zeigt Polanski hier nämlich mit einem Feingefühl, das irgendwie nicht zu einem „Kleine-Mädchen-Schänder“ passen will, die Transformation eines Menschen: Der gepflegte, feinsinnige Künstler, dessen Finger wie Federn übers Klavier schwebten, wird aus der Not heraus zum Tier, das Abfälle isst, dessen Hände steife, verdreckte Krallen wurden. Was passiert einem Menschen, der gezwungen wird, sich wie eine Ratte zu verkriechen, dem alles genommen wurde, selbst der menschliche Stolz? Der Pianist beantwortet diese Frage recht anschaulich. Dabei spiegelt die Ästhetik die Kälte des Winters wieder, der dem Protagonisten fast so sehr zusetzt wie die deutschen Verfolger.

Dass am Ende des Filmes eine eindrucksvolle Geste der Vergebung steht – der verfolgte Jude hilft dem deutschen Offizier – ist irgendwie bezeichnend und bringt die Frage nach Schuld und Sühne wieder auf den Tisch. Nicht nur historisch gesehen, sondern auch auf die aktuelle Situation bezogen.

Als die Gerüchte um Michael Jacksons „Neverland-Ranch“ immer lauter und eindeutiger wurden, haben sich viele abgewandt. Andere haben es nie geglaubt und dritte sagen: Egal was er gemacht hat, ich liebe seine Kunst, nicht ihn. Oder wie Robbie Williams das ausdrückt: Hate the sin, not the sinner.

Misst man dementsprechend aber nicht erst recht mit dem falschen Maß, wenn man eine schlimme Tat verzeiht, nur weil der Täter ein Künstler ist? Dieses Argument scheint ebenso unbefriedigend wie zu sagen: Er hatte eine schlimme Vergangenheit, oder er macht gute Filme, also vergessen wir den Rest. Beides trifft irgendwie nicht den Punkt und erklärt nicht, warum eine schlussendliche Verhaftung Roman Polanskis einen irgendwie ein wenig ratlos macht.

Es geht ja nicht nur darum, ob Polanski ein Künstler ist oder nicht. Es geht darum, das man 33 Jahre wartete, um ihn einzusperren, dass niemand den Grund versteht, warum es gerade jetzt sein musste. Darum, dass es einfach dämlich ist, es so öffentlich zu tun und zu erwarten, dass niemand protestiert. Übereifrig erscheint diese Verhaftung, wieder drängt sich der Obama-Nobelpreis-Vergleich auf: Vielleicht richtig, aber eben übereifrig und daher von der Gefahr bedroht peinlich zu werden.

Peinlich war es sicher für die Schweiz, als sie Polanski, nach zwei Jahren Hausarrest und fortgesetztem öffentlichen Protest, diesen Juli entlassen musste. Nein, man würde ihn nicht in die USA ausliefern. Ja, Herr Polanski kann nun gehen wohin er will.

Es ist die Auflösung einer Situation, die einigen Wirbel verursacht und der Schweiz einige Kritik eingebracht hat.

Es gibt einige respekteinflößende Namen – zum Beispiel Harrison Ford oder Monica Belucci (Matrix – Reloaded und Revolution, sie spielt die Frau des Merowingers) – die haben sich öffentlich für Roman Polanski ausgesprochen. Um ihnen beipflichten zu können müsste man den Mann, also Roman und nicht Polanski, wohl kennen. Da wir es nicht tun, bleibt ein Urteil über ihn als Mensch von unserer Seite streitbar. Nicht über die Sache, über ihn. Also doch Hate the sin, not the sinner?

Vielleicht umschreibt es am besten die allgemein gültige Meinung über den romantischen Dichter Lord Byron: Dass er seine Schwester gef**** hat ist eine Tatsache. Dass er gute Gedichte machte, ist eine Tatsache. Nur weil ich seine Gedichte lese, finde ich nicht plötzlich inzestuöse Beziehungen gut.

Dass Polanski ein Mädchen vergewaltigt hat, ist eine Tatsache, ebenso dass sie ihm verziehen hat. Dass er gute Filme macht, ist eine Tatsache, ebenso, dass eines mit dem anderen nichts zu tun hat.

Quelle u.a.: Sebastian Ramspeck „Eine groteske Justizposse“ (Die Zeit)