„So ein Spiel ist ein lebendes Objekt“, lautete Martins erster Satz als ich mit ihm bei Skype verbunden war, „es gibt immer viel zu tun“.

Martin ist der Gründer und immer noch Entwickler von einem Spiel mit dem bezeichnenden Namen AirlineSim. Die Flugsimulation Flugliniensimulation spielt sich komplett im Browser ab, wo sich Spieler darin messen, wer das beste Flugliniennetz aufbaut und unterhält. Niemand fliegt hier selbst, es geht rein um die Wirtschaft dahinter. Klingt nicht sonderlich spannend und sieht auch nicht so aus. Zwischen einem bunt blinkenden Candy Crush wirkt AirlineSim trist. So trist, dass Eltern das Spiel nicht einmal verdammen würden, weil sie es einfach nicht als Spiel erkennen. Würde man einem Publisher heute so ein Spiel vorschlagen, dürfte man sich wohl auf einen Gang zur Tür mit der Security freuen. Daher beginnt die Geschichte von AirlineSim anders, nämlich 2001 in Amerika.

Auslandsjahr in Amarillo, Texas. 17 Jahre alt ist Martin, das Abitur rückt näher. Winter. Und im Winter ist es ungemütlich in Amarillo. Genau wie in diesem Alter, wenn man nicht wirklich weiß, was man mit seinem Leben nach dem Abitur anfangen soll. Aber daran denkt man eigentlich auch nicht wirklich in dem Moment, in dem Alter. Martin ist an Flugzeugen interessiert. Nicht dass er selbst mal Pilot werden will, aber eine gewisse Faszination ist vorhanden. In der heutigen Zeit eigentlich die perfekte Möglichkeit um ein x-beliebiges Browsergame zu starten und unzählige Stunden darin zu verbraten. Jedenfalls bis man anfangen muss, zu zahlen, wenn man sich in der Casual Game-Welt absetzen will. Leider gibt es 2001 noch kein wirkliches Angebot an Browsergames, selbst Die Stämme soll erst ein Jahr später erscheinen. Und alleine offline an einem Simulator zu spielen ist schon längst langweilig geworden. In der Langeweile enstehen die verrücktesten Ideen und manchmal auch welche, die sich zur größeren Projekten entwickeln. So richtig groß wurde AirlineSim zwar nie. Aber als Martin die Idee von einem Flugliniensimulator in ein Flugzeug-Forum postet, bildet sich schnell ein Haufen sehr interessierter Leute. Die Community war also da und bereit. Vielleicht weil es auch einfach nichts anderes gab, vor allem nicht in so einer Nische.

Martin konnte nur die Scriptsprache PHP, die nach Wikipedia „hauptsächlich zur Erstellung dynamischer Webseiten oder Webanwendungen verwendet wird“. Also keine Sprache die man normalerweise verwendet, um Spiele zu programmieren. Das sollte dem Projekt AirlineSim aber nicht im Weg stehen! Eher die Pleite des Serversponsors, was für Martin ein direkter Schlag ins Gesicht bedeutete, da keine Backups erstellt wurden. Nach dem Rückflug aus Amerika zurück nach Deutschland musste sowohl Programmstruktur als auch Community neu gebildet werden. Ein Fehler, den man „im jugendlichen Leichtsinn“ nur einmal macht, möchte man meinen – aber dazu später mehr.

Wieder in Deutschland, die Community und der Code soweit wieder da, sollte erstmal ein Praktikum her. In die Logistik sollte es gehen, auch mit Hinblick auf eine berufliche Karriere. Die Erfüllung war das jedenfalls nicht für Martin und auch die Entwicklung von AirlineSim ging nur schleppend voran – eigentlich ja ein lebendes Objekt. Wenigstens wurde ein neuer und verständnisvoller Unterstützer gefunden, der die Serverstruktur bereitstellte und unter dem Martin die nächsten fünf Jahre ohne jeglichen Druck entwickeln konnte. Zu Martin gesellten sich nun auch immer mal wieder weitere Entwickler und Designer. Vor allem in der Datenrecherche war der Rückhalt aus der Community das wichtigste, sonst wäre das Spiel nie so umfangreich und komplex geworden, wie es heute ist. In AirlineSim bildet eine Woche im Spiel ein Wirtschaftsjahr ab, doch die Flüge geschehen in Echtzeit, was nicht wirklich so geplant war, sondern sich so ergeben hat. Vielleicht im jugendlichen Leichtsinn. Der Flugplan wird dabei dann drei Tage im voraus errechnet und hat dann die Chance gebucht zu werden. Ein gut strukturiertes Flugnetz führt dabei zu Erfolg.

Da die Karriere in der Logistik nicht wirklich erfolgsversprechend aussah, ging es zurück. Raus aus der harten Arbeitswelt, rein ins Studium. Das war 2004, also drei Jahre nach der Geburt von AirlineSim. Das Spiel basierte zu der Zeit immer noch auf PHP, was zu ständigen Abstürzen führte, da die Sprache keine so großen Datenmengen verarbeiten kann. Ein Schweizer Informatiklehrer wurde auf das Projekt aufmerksam und bot seine Unterstützung in der Programmierung an. Er wurde Martins Mentor, brachte ihm die viel besser dafür geeignete Programmiersprache Java bei und schrieb das Spiel gleich professionell in die neue Sprache um. Bis 2006, als der Schweizer Lehrer plötzlich verschwand und sich nicht mehr meldete. Jugendlicher Leichtsinn sei Dank wurde wieder kein Backup erstellt. Fünf Jahre nach dem ersten Neubeginn wäre ein weiterer gefolgt, hätte Martin nicht seine Sachen gepackt und wäre in die Schweiz gefahren, um an der Tür des Lehrers zu klingeln und den Quellcode auf CD mitzunehmen. Leider ohne Dokumentation. Das Einbauen der Elemente wurde daher oft mit der Brechstange durchgeführt, was heute manchmal noch für Probleme im Spiel sorgt.

Ein Jahr später war es dann soweit. Der Besitzer der Serverstruktur wollte langsam Kapital aus dem Projekt schlagen, Martin wollte nach Hongkong ins Auslandssemester. Das Spiel ging nun endlich in der Java-Version online und brach hoffnungslos zusammen. Der Code konnte nicht unter realen Bedingungen getestet werden und der Ansturm auf das Spiel war viel größer als gedacht. Was gleichzeitig eine gute Nachricht ist. Die Community war heiß auf AirlineSim. Kaum das Unternehmen angemeldet ging auch schon der Flug nach Hongkong. Also der echte Flug. Martins Auslandssemester. Nach vielen Überarbeitungen, der Modernisierung von AirlineSim und nach dem Rückflug aus Hongkong stand der nächste akademische Endboss vor der Tür: Die Diplomarbeit. „Identifikation von Erfolgspotenzialen im LCP-Import (Teilladungsverkehr) aus den USA nach Deutschland“ lautete der Titel. „Schwer zu beschreiben“ meint selbst Martin heute. Doch die Logistikbranche ist immer noch nichts für Martin als Beruf. Die Wirtschaftsprobleme machen ihm Sorgen. Lieber sollte AirlineSim internationalisiert werden. Was anscheinend weniger Sorgen machte. Vielleicht im jugendlichen Leichtsinn.

Tagsüber in einem Unternehmen, wurde Nachts an AirlineSim gearbeitet und die Infrastruktur für den internationalen Markt aufgebaut. Eingeschlagen wie in die deutsche Szene hat das Spiel zwar nicht – die Zeit war eine andere und keine Szene steht so auf Simulatoren wie die deutsche – doch der Schritt war wichtig. Genau wie der Schritt zur Unabhängigkeit, weg vom Besitzer der alten Serverstruktur. Die Hälfte der internationalen Community von AirlineSim besteht heute aus Deutschen. Viele davon begleiten das Projekt schon seit Jahren. In diesen Jahren hat sich das Projekt oft gewandelt. Zuletzt wurden viele Einstiegshürden entfernt, AirlineSim bleibt dabei aber trotzdem eine knüppelharte Simulation. Viele der Partner von Martin wurden „vom echten Leben eingeholt“. Nur Martin irgendwie nicht. AirlineSim könnte mal ein Programm zur Ausbildung in der Wirtschaft werden. Irgendwann. „Man hat es gemacht, weil man es cool fand“.

Heute arbeitet Martin nebenbei als freier Mitarbeiter an verschiedenen anderen Projekten. Sein eigenes neues Projekt heißt Prosperous Universe und ist ebenfalls eine Wirtschaftssimulation, diesmal im Weltall. Das Spiel befindet sich momentan in der closed alpha und soll vielleicht nächstes Jahr erscheinen. AirlineSim ist heute über 13 Jahre alt. Einige simulierten Spielwelten laufen seit der großen Veröffentlichung 2007 noch heute. Die Community hinter dem Spiel ist treu und unterstützt Martin und sein kleines Team noch immer. Die Haupteinnahmequelle von Martin wird AirlineSim zwar nicht, doch auch, weil die „Hauptkonkurrenz nicht wirklich vom Fleck kommt“, wird AirlineSim wahrscheinlich noch viele weitere Jahre bestehen.

Das Spiel unter: airlinesim.aero

Danke, an dieser Stelle, für die netten Gespräche und die Einblicke in das Spiel und die Hintergründe. Ihr findet Martin ebenfalls auf Twitter.