Wie weit darf man für eine Idee gehen? Ist es erlaubt, ja sogar geboten für eine Hoffnung auf eine bessere Welt zu morden? Eine Antwort geben die „Gerechten“ nicht. Die Notwendigkeit über diese Fragen nachzudenken, verschafft die Gegenwart. Lust dazu macht die Inszenierung der Schwarzen Schafe allemal.

Wie gerecht kann Töten und Sterben um der Idee willen sein? Das ist die Frage, um die sich alles in Camus Stück dreht. Schon bei der Uraufführung 1949 ein Stoff von Brisanz und Tiefe. Blicken wir diese Tage nach Norwegen, nach Israel und Palästina und in die arabische Welt, so hat die Thematik um Liebe und Gerechtigkeit nichts an Aktualität und Dramatik eingebüßt. Mit den Kategorien „gut und böse“, „weiß und schwarz“ sollte man sich dem jedoch nicht annähern wollen, wie „die Gerechten“ auf der Bühne beweisen.

Der kleine Saal in der Stadthalle ist fast bis auf den letzten Platz besetzt. Die Zuschauer erwartet ein kahler Holztisch, auf dem Gläser und eine Flasche Wodka stehen – inmitten eines kühlen Raums, mitten in der Stadt und doch weitab der Welt, eine Mischung aus Kontrollturm und Bunker.

Das ist das minimalistische Bühnenbild für die ersten drei Akte. Es gibt kaum Requisiten, keine musikalische Begleitung, keine besonderen Beleuchtungseffekte, dafür umso mehr Charakterspiel. Das Augenmerk liegt auf den Schauspielern, den „Gerechten.“

Das sind Stepan (Timon Henze), der Robespierre der Gruppe, der unversöhnliche Utopist, von fanatischem Gerechtigkeitseifer getrieben. „Janek“ (Bastian F. Benrath) der warmblütige Poet, der das Leben liebt, es aber dem Schicksal Russlands untergeordnet hat. Dann ist da noch Dora (Vanessa Heydasch), die die Bomben bastelt, die die Idee der Revolution liebt, aber keine Gegenliebe findet und auf der Suche nach Trost und Wahrheit an der Idee verzweifelt. Die Vierte im Bunde ist Alexa (Sophia Schmid), die an der nervlichen Belastung des Terrors verzweifelt. Zusammengehalten werden die „Brüder im Geiste“ von Boris (Jan Stöckmann), dem Kopf der Gruppe, der die verschiedenen Charaktere zu einen und Konflikte zu lösen hat.

Die Sozialrevolutionäre agieren im zaristischen Russland um 1905. Sie planen die Ermordung des Großfürsten Sergei. Sie wollen ein Zeichen setzen. Ein terroristischer Akt für ein besseres Leben. Für ein schönes, freies, gerechtes Russland ohne Repressionen und Gewalt des Regimes. Das ist die Idee, die alle fünf lieben, der sie sich auf Gedeih und Verderb verschrieben haben.

Janek kommt unerledigter Dinge zum Treffpunkt zurück. Er hat es nicht vermocht die Bombe auf die Kutsche des Großfürsten zu werfen, Kinder saßen an seiner Seite. So wird der Weg zum Attentat zum Desaster für die Gruppe. Die Bande der Bruderschaft, einst von einem gemeinsamen Ziel geknüpft, drohen zu zerreißen, Zweifel und Angst ersetzen Entschlossenheit. Wie weit darf man im Namen der Revolution gehen. Heiligt der Zweck alle Mittel? Was sind zwei Fürstenkinder gegen tausend Bauernkinder, die an Hunger sterben? Was zählt die konkrete Gegenwart, was eine abstrakte Zukunft? Wie viel wiegt lebende Ungerechtigkeit gegenüber toter Gerechtigkeit? Alexa hält es nicht mehr aus. Nervös erklärt sie Anführer Boris, das sie „für diese Art von Revolution“ nicht geschaffen sei. Alle scheinen unter dem Druck „größer sein zu müssen, als sie sind“ zusammenzubrechen. Janeks zweiter Versuch hat schließlich „Erfolg“. Er wird verhaftet, verweigert jegliche Begnadigung und Verzeihung. Er muss sich mit der Polizeichefin Skuratowa (Carolin Puhl) unterhalten: „Ich biete Ihnen Ihr Leben, wenn Sie Ihre Genossen verraten.“ Auch die verwitwete Großfürstin (Marlene Mehnert) versucht Janek zur Buße und zum Verrat zu verführen, doch der schwört auf Brüderlichkeit und Solidarität und zieht den Opfertod vor. Für Janek  kann nur sein Tod seinen Mord sühnen. „Die Ehre ist der letzte Reichtum der Armen.“

Hass und Terror, Revolte, Konflikte zwischen Mensch und Geschichte, Rebellion gegen das absurde Dasein des Menschen, sind heute – in der Zeit der religiösen, politischen Fanatiker und Freiheitskämpfer vielleicht aktueller denn je. Gibt es den moralisch gerechtfertigten Mord? Heiligt der Zweck die Mittel? Was ist die Idee der Gerechtigkeit noch wert, wenn Sie ihren moralischen Boden verliert? Ist das, was einem selbst gerecht erscheint, für den anderen nicht schon ungerecht? Ist Veränderung nur durch Gewalt möglich?

Um diese existenziellen Fragen auf der unendlichen Suche nach Gerechtigkeit geht es. Am Ende bleiben alle Fragen offen. Mit der Antwort ist ein jeder sich selbst überlassen. Vielleicht kommt es – um es im juristischen Jargon zu sagen – von Fall zu Fall darauf an.

Die beiden Regisseure, Ingrid Lapp und Philipp Steffan, haben sich ein sehr ernstes anspruchsvolles Stück vorgenommen. Die Inszenierung war von der ersten bis zur letzten Minute hochspannend und fesselnd – was man der sich allein tragenden Thematik zum Teil zusprechen muss. Die schauspielerische Leistung war bei allen Rollen auf hohem Niveau – besonders hervorzuheben ist jedoch die von Vanessa Heydasch als Dora, die die innere Zerrissenheit zwischen Vorwärts für die Idee und Stillstand für die Moral und Liebe besonders überzeugend verkörpert hat und Timon Henze als Stepan, dessen Hass, Skrupelllosigkeit und innere Leere förmlich zu spüren war.

Zum Theaterprojekt der „Schwarzen Schafe“ in der Inszenierung von Ingrid Lapp und Philipp Steffan am 16. Juli im kleinen Saal der Stadthalle Bayreuth.